Die Tänzerin auf den Straßen
Gepäck zu schleppen, und mit meiner Seele. Ich versprach, gut für sie zu sorgen und nicht ans Ziel zu denken, nicht ständig die achthundert Kilometer vor Augen zu haben. Immer nur der nächste Schritt, das kleine Ziel, nachts ein Bett zum Ausruhen, mehr nicht! Keinen Druck! Hingabe an jeden Augenblick. Der Weg ist das Ziel diese Weisheit hatte ich tausendmal gehört, jetzt sollte ich sie wirklich erfahren und leben jeden Tag, den ich mich erneut auf meine beiden Füße stellte. Und so gestattete ich mir zu scheitern. Nur kein Leistungsdruck, keine Zielvorstellung.
Ich lud das Scheitern ein, das heißt, ich gestattete mir Schwäche und Aufgeben, wenn nichts mehr gehen wollte. Das entspannte meinen Körper sofort, die Muskeln, Gelenke, alle Sehnen und Knochen, den Rücken, die Schultern und mein Herz. Befreit lief, nein, hüpfte ich in den anbrechenden vierten Tag.
Zeige deine Wunde!
Scheitern galt in meiner Ursprungsfamilie als verboten.
Mein Vater war an seinem Leben gescheitert, er hatte sich umgebracht. Das war schlimm, wir vermieden in der Familie, darüber zu sprechen.
Ich habe seine Lebensart und Sensibilität geerbt, war ihm von allen vier Kindern am ähnlichsten und hatte an seinem Selbstmord am meisten zu tragen. Die Worte meiner Mutter: „Du bist wie dein Vater!“ bekam ich immer dann serviert, wenn ich aus der Norm fiel.
Wer legt eigentlich fest, dass Selbstmord Schwäche und Scheitern bedeutet? Ist es nicht Mut, freiwillig auf die andere Seite des Lebens zu gehen, wenn man hier keinen Sinn mehr sieht? Beim Wandern, in der Begegnung mit der Kirche, wurde mir sehr deutlich, dass die männlich geprägten Religionen seit Jahrhunderten den Menschen in seinem Menschsein mit Dogmen und Vorschriften unterdrücken. Selbstmörder wurden außerhalb der Friedhofsmauer beerdigt.
Ich selbst bin in der evangelischen Kirche groß geworden, interessierte mich aber schon immer für alles Mystische und Spirituelle. Zur Zeit der DDR waren die Kirchen ein lebendiger Ort für alles Leben, das außerhalb ihrer nicht möglich war. Dies war eine wichtige und gute Zeit, in der Religion immer auch mit der politischen Situation zu tun hatte. Es war lebendiger Glaube, an dem auch Nicht-Christen einfach auf der menschlichen Ebene teilhatten. Das Christsein spielte keine Rolle. Wir hatten ein gemeinsames Ziel. Wir waren in erster Linie Menschen, die sich Halt und Wärme gaben, Inspiration, Geistigkeit und Kreativität tauschten und über Gott und die Welt redeten, so, wie uns der Schnabel gewachsen war. Hier hatten wir Vertrauen. Solidarität war das, was zählte, nicht in erster Linie Religion als Selbstzweck. Wir fühlten das Göttliche oder Gott durch unser menschliches Zusammensein. Ich habe damals schon oft mit den Pfarrern diskutiert über Gebote, Bibel, Sakramente, da ich vieles als verstaubt empfand. Doch die Dogmen spielten keine Rolle, weil der Kirchenalltag unter der kommunistischen Verfolgung litt und andere Lebensthemen wichtiger waren.
Während ich jetzt beim Schreiben darüber nachdenke, bemerke ich, dass der Sozialismus uns mit seiner Verfolgung etwas sehr Wichtiges gegeben hat: Erfahrungen, die Menschen nur in Diktaturen machen. Das Leben selbst wird zur Religion, tagtäglich, da sonst die Angst nicht auszuhalten wäre. Und heute? Wir haben doch auch Angst. Die Angst ist verlagert nach innen und jeder ist damit allein. Wir schämen uns, von der Angst zu erzählen, außer in Therapiegruppen. Wir tragen die meiste Zeit Masken und reden von Wirtschaftswachstum und die Kirchen von der Gerechtigkeit Gottes, dabei sind wir alle sehr verwundet, jeder einzelne Mensch und die Menschheit als Ganzes. Was würde sich ändern, wenn wir das offen zugäben? Zeige deine Wunde!
Ist die neue Religion, die die Welt braucht, etwas anderes als das ganz einfache Menschsein in einem neuen Zusammenleben mit und in der Natur?
Ich habe noch den Bibelsatz gelernt: Macht euch die Erde untertan. Das Ergebnis sehen wir jetzt. Die Ausbeutung der Natur muss ein Ende haben. Es braucht Zwiesprache mit der Erde. Sie ist die Göttin, die alles blühen und wachsen lässt... In Anbetracht der vielen Kathedralen bekannte ich mich innerlich noch einmal zu meinem Hexendasein. Ja, ich bin eine Hexe, die die Natur über alles liebt. Seit Jahren beschäftige ich mich mit den Naturreligionen, leite indianische Schwitzhütten, verwende die Kraft von Pflanzen und Tieren zur Heilung, rede mit der Natur, beobachte, lausche, fühle, suche mich
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