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Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Titel: Die Tage des Regenbogens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Skármeta
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man mit Lebensfreude warb?
    Er hatte seine Fernsehkampagne konzipiert und sich diese Frage nicht gestellt. Denn auf so unverhohlene Weise, mit einem Strauß-Walzer und einem bunten Völkchen »Nein«-Sager, Lebensfreude zu propagieren und jede Träne zu verbannen, während das gesamte Land weinte, war eigentlich frivol.
    Er hatte sich vergaloppiert. Er war mit dem Kopf gegen die Wand gerannt. In den Abgrund gesprungen ohne Auffangnetz. Pinochet hatte fünfzehn Jahre lang die Medien kontrolliert, hatte er Olwyn sein Vorgehen erklärt, und er hatte ganze fünfzehn Minuten, um den Panzer der Diktatur zu durchbrechen.
    Er konnte nicht ins Detail gehen. Dennoch verwendete er von diesen fünfzehn Minuten fast fünf, um den Nein-Walzer in Szene zu setzen.
    Die Serviette, in die der junge Nico während des Desserts sein Gesicht vergrub, erinnerte ihn an das Segel eines gestrandeten Schiffs. Er konnte ihn nicht trösten. Er selbst hätte sich in dem Moment Trost gewünscht. Das Warten wurde ihm zur Qual. Über den Bildschirm liefen die Bilder der »Ja«-Kampagne: Terroristengruppen mit Kapuzen und Sprengsätzen, die mit Steinen Autoscheiben einwarfen: Das würde dem Land blühen, wenn »Nein« gewinnen würde. Chaos, aufgehetzte Jugendliche, eine Rotte, die über Leichen ging. Der politische Wechsel, den er mit Lebensfreude in Verbindung setzte, wurde bei Pinochets Werbeleuten zum Höllenszenario.
    Bettini hielt es nicht länger aus, hier zu sitzen. Der Gedanke, seine Bilder zusammen mit seiner Familie ansehen zu müssen, war ihm unerträglich. Er riss Nico die Serviette aus der Hand und warf ihm als Ersatz seine hin. Dann stopfte er sich das vollgeweinte Tuch in die Jacketttasche und verkündete, er wolle hinausgehen und eine Runde drehen.
    »Was hast du vor?« Patricia sprang auf.
    »Was ich gesagt habe. Eine Runde drehen.«
    »Aber, Papa. Das ist dein großer Moment. Ganz Chile sitzt in diesem Moment vor den Bildschirmen.«
    »Das ist es ja, mein Liebes: Alle werden sehen, dass ihr Kaiser nackt ist. Noch ein Harakiri stehe ich nicht durch.«
    »Papa, sag die Wahrheit, was hast du vor?«
    »Eine Runde drehen!«
    Magdalena stürzte sich auf ihn und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen.
    »Patricia hat recht. Wo willst du hin?«
    Er knüllte Nicos feuchte Serviette in der Tasche zusammen.
    »Ich werde mich nicht in den Mapocho stürzen. Um diese Jahreszeit hat er gar nicht genug Wasser.«
    »Was dann?«
    »Ihr Lieben, ich mache einen Spaziergang. Einfach einen Spaziergang, um Luft zu schnappen.«
    Nico stand verschämt auf und ging aufs Klo.
    »Verzeihung.«
    Bettini zwinkerte ihnen zu.
    »Ihr solltet euch lieber um ihn kümmern. Er hat im Moment keine Menschenseele an seiner Seite.«
    Er hätte am liebsten die Tür zugeknallt, aber er hielt sich zurück. Stattdessen schob er sanft die Tür zu, wie ein Abschiedskuss.
    Draußen war es frisch. Er knöpfte sich den obersten Knopf seines Hemds zu und blickte auf den von den Ästen zerschnittenen Mond. Ñuñoa war immer schon sein Viertel gewesen. Er wandelte gern durch die Straßen mit ihren historischen Häusern. Die alten Bäume wuchsen ungehindert, keine Säge konnte ihre himmelhohen Kronen mehr erreichen. Das gutbürgerliche Viertel strahlte Behaglichkeit aus. Die Straße, in der er wohnte, lag ein Stück entfernt vom Supermarkt, den Shoppingmalls und Haltestellen der großen Buslinien.
    Der Besitzer des Eckladens zahlte noch etwas für zurückgebrachte Glasflaschen. Und den Kindern, die von ihren Müttern geschickt wurden, Brot oder Öl zu kaufen, schenkte er immer eine Kleinigkeit: einen Kaugummi oder ein Bonbon.
    Der Kioskbesitzer hob ihm am Sonntag, wenn er bis zum Mittagessen im Bett blieb, die Zeitung auf, und wenn er den Weg gar nicht schaffte, klingelte er bei ihm und reichte ihm lächelnd El Mercurio .
    Bei dem Chinesen von Manuel Montt konnte er anschreiben. Wenn er kein Geld hatte, um Magdalena und Patricia zum Essen einzuladen, lachte sich der alte Tin-Lung einen ab und holte sein Buch mit dem Kalenderbild von Marilyn Monroe auf dem Deckel und schrieb alles auf. Alles war noch genauso wie in seiner Kindheit, bis auf zwei Dinge.
    Die Fernsehantennen, die aus jedem Fenster in den Himmel stachen.
    Und das italienische Kino.
    Den Fünfunddreißig-Millimeter-Projektor hatte man ihnen weggenommen und zwangsversteigert. Nun verkehrten dort Evangelen in braunem Anzug, Hemd und Krawatte, die auch im Hochsommer Brillantine im Haar trugen. Ihre Frauen waren mager und

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