Die Tage des Regenbogens (German Edition)
habe schon fast einen Infarkt.«
SECHSUNDDREISSIG
I ch fahre mit der Metro ins Stadtzentrum.
Laura Yáñez will mich sehen. Am Telefon wollte sie nichts sagen. Sie will mich treffen.
Ich bin die Strecke schon oft gefahren, aber heute ist alles anders. Es ist heiß und überfüllt wie immer, aber niemand scheint sich an der Enge zu stören. Die Leute grüßen. Sie rücken zusammen, um den Hinzugestiegenen Platz zu machen.
Die Leute sehen frisch aus. Ihre Blicke sind wach. Sie unterhalten sich. Ich sehe niemanden, der auf seine Schuhe starrt. Eine Gruppe Frauen in Supermarktuniform lächeln sich zu.
Auf der Titelseite der größten Tageszeitung, die ein Rentner liest, sind zwei übergroße Fotos abgebildet.
Auf einem ist der lächelnde Pinochet zu sehen und auf dem anderen Florcita Motuda mit der Präsidentenschärpe über der Brust.
Die Schlagzeile lautet: DUELL DER TITANEN.
Es sind nur noch wenige Tage bis zur Abstimmung, und niemand scheint über irgendetwas anderes zu reden. Wie ein unablässiges Tick-Tack höre ich, während ich mich durch den Waggon vorarbeite, überall »ja-nein, ja-nein, ja-ja, nein-nein-nein«.
Santiago ist heute sonderbar.
Alle sehen so gesund aus. Haben sie Orangensaft getrunken? Haben sie sich unter der Dusche mit Meeresalgen abgerieben? Und dann das Lachen! Ein dunkelhäutiger Schüler mit grünen Augen erzählt die Szene vom Vorabend nach, als der Feuerwehrmann mit einem Wasserglas die Sirene seines Feuerwehrautos nachahmte und dabei »nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein« jaulte. Die umstehenden Erwachsenen werfen sich vergnügte Blicke zu. Ein Alter klopft ihm auf die Schulter. Und der Rothaarige fordert ihn auf, er solle es noch mal machen. Und wieder geht ein Lachen durch den Waggon. Das sieht unserem Land nicht ähnlich. Von den Brasilianern heißt es, dass sie so fröhlich sind. Vor allem freue ich mich für Señor Bettini. Für Patricia Bettini. Für Señora Magdalena. Als Adrián Bettini nach Haus kam, stand das Telefon bis drei Uhr morgens nicht mehr still. Glückwünsche über Glückwünsche. Don Adrián gab ausländischen Zeitungen Interviews. Ein Herr Chierici von Corriere della Sera rief an. Ein Auslandsgespräch. Und dann ein Spanier von El País . Sie fragten nach Prognosen und Analysen für den Tag der Abstimmung. Die Zeit läuft. Wie viele Tage sind es noch bis zum 5. Oktober?
Bei jeder Station steigen ein paar Leute aus, neue kommen hinzu und bringen frischen Wind. Wie ein neuer Mittelstürmer, der nach der Halbzeit den müde gelaufenen ersetzt. Ich habe sogar den Eindruck, der Zug fährt schneller als sonst. Genau das verabscheut mein Vater. Die subjektive Wahrnehmung, die den Blick auf die objektive Wirklichkeit verstellt. Die Sophisten gehen ihm auf den Geist. Brillant reden und Eindruck schinden, darin sind sie gut. Aber im Grunde viel Blabla. Aristoteles dagegen – der kommt zum Kern der Sache.
Ich glaube, ich bin der Einzige im Waggon, der nicht ausgelassener Stimmung ist. Die Abwesenheit meines Vaters bedrückt mich. Ich bin nicht mit der Stadt im Rhythmus. Es wird freie Wahlen geben, aber mein Vater ist in Haft. In Haft und verschwunden.
Dieser Samuel vertröstet mich immer weiter. Patricia Bettini drängt darauf, dass ich mit den bösen Leuten sprechen muss. Die Guten können nichts ausrichten. Vielleicht wäre es jetzt der richtige Moment.
Jetzt sind die Leute voller Zuversicht.
Klar, denke ich. Aber in welcher Verfassung mag Pinochet sein? Wütend. Außer sich. Es sieht so aus, als sei ihm der Schuss nach hinten losgegangen. Die Señora in dem grünen Kleid mit der Tüte aus dem Supermarkt trällert den Nein-Walzer . Vielleicht ist das alles ein Traum, und gleich stürmt ein bewaffnetes Kommando herein und erschießt uns alle.
Ich bin nicht zur Schule gegangen. Aus Sorge, dass meine Rede, die ich auf dem Friedhof gehalten habe, für mich Konsequenzen haben könnte. Leutnant Bruna ist nicht gekommen, »aus Anstand«, aber es waren genug Spitzel da, die vielleicht schon vor dem Schultor auf mich warten.
Oder in meinem Klassenzimmer sitzen.
Mit kurz geschorenen Haaren.
An diesem sonnigen Tag.
Um ihre Ausweise herzuzeigen, klappen sie das Revers auf. Sie sind Detektive. Aber man hat mir erzählt, dass die Detektive die Festgenommenen anschließend den Agenten der Geheimpolizei übergeben.
Und dann verliert sich die Spur.
Das letzte Mal, als ich mit Samuel sprach, sagte er mir, ich solle nicht den Mut verlieren. Dass
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