Die Tage des Regenbogens (German Edition)
blässlich und trugen Kniestrümpfe. Zwischen dem Straßenpflaster konnte man noch die Schienen der Straßenbahn erkennen, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr fuhr. Sein Viertel hatte die flüchtigen Küsse der hübschesten Mädchen aus der Avenida Antonio Varas gesehen, und an seinem vierzehnten Geburtstag machte ihm die Blonde mit den lustigen Locken aus dem Damen-und-Herren-Salon, nachdem sie hinter dem letzten Kunden die Tür geschlossen hatte, ein Überraschungsgeschenk. Und während sie anschließend mit einem Handtuch die Spuren beseitigte, flüsterte sie ihm »Happy birthday« ins Ohr.
Das war sein Santiago. Es bekannte sich zur Demokratie und demonstrierte auf der Straße. Als Student rief er zusammen mit Tausenden »Allende, Allende, das Volk auf deiner Seite!«.
Vor der Polizeischule in der Avenida Antonio Varas hatte er die Panzer der Putschisten auf den Regierungspalast La Moneda zurollen sehen. Er war geweckt worden von den Jagdflugzeugen, die wenig später den Palast bombardierten.
Damals hörte er unentwegt eine Schallplatte von Bob Dylan: Dont’t think twice, it’s all right .
Dann war das also doch sein Stil? Jedes geschichtliche Ereignis war für ihn mit einer Melodie, einer Gedichtzeile verknüpft. Natürlich hatte die eine Sache mit der anderen nichts zu tun. Das eine war die Wirklichkeit, das andere seine Fantasie. Träume. Zerplatzende Seifenblasen. Hirngespinste.
So energisch seine Schritte waren, so sinnlos war sein Unterfangen: Er konnte sich noch so weit in die Nebenstraßen schlagen, über denen der Frühlingsduft des Jasmin lag, aus allen Fenstern schallte der Nein-Walzer auf die Straße.
Ein Paradox: Er war vor einer Fernsehausstrahlung geflohen, und jetzt sah er sich von Hunderten von Fernsehern bedrängt.
Aus dem dunklen Gartendickicht leuchteten gespenstisch die Bildschirme. Er fühlte sich wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zu seiner Hinrichtung, der als zusätzliche Qual in voller Lautstärke die Musik hören musste, die seinem elenden Leben zum Verhängnis geworden war.
»Mein Gott! O mein Gott!«, sagte er zu sich und rannte los, ohne zu wissen, wohin. »Ganz Santiago schaut sich das an!«
Schweißperlen traten auf sein Gesicht, er wurde immer blasser. Ohne Rücksicht auf sein wild pochendes Herz rannte er weiter. Er würde noch an Herzversagen sterben. Nichts anderes wollte er. Zum Jahresende erleuchtet ein prachtvolles Feuerwerk den Himmel, er bekam jetzt seine eigene Abschiedszeremonie: In allen Wohnzimmern Chiles liefen auf den Fernsehbildschirmen die fünfzehn Minuten, die ihn berühmt gemacht hatten, seine jämmerliche Improvisation über die Freiheit.
Er brauchte sich nicht in den Mapocho zu stürzen, nicht von einem Hochhaus zu springen, sich auf einem Baum aufzuknüpfen oder sich vor einen fahrenden Bus zu werfen.
Es gab eine viel bescheidenere Lösung: Er brauchte nur immer weiter zu rennen, dann würde sein Herz irgendwann wie ein reifer Granatapfel zerbersten.
Auf einmal war die Musik vorbei, was bedeutete, dass die Ausstrahlung des »Nein« ans Ende gekommen war.
Sein letztes Stündlein hatte geschlagen.
Alle Bewohner des Landes, die Bootsführer auf offener See, die rebellierenden Studenten, die Kinder und Enkel der Erschossenen und Verschwundenen, Mütter und Verlobte, würden einander ansehen und fragen: »Was soll das?«
»Was soll dieser Quatsch!«
Das war sein Ende.
Sein Untergang.
Der unwürdige Höhepunkt seiner Karriere.
Er konnte nicht mehr. Keuchend hielt er an einem Platz an, der Sprühnebel des Springbrunnens mischte sich wohltuend mit seinem Schweiß.
Plötzlich war ihm, als würde er durch die besprengten Brillengläser vage etwas erkennen.
Dort, auf der anderen Seite des Platzes, geschah irgendetwas.
Jemand drehte sich voller Schwung.
Oder es waren zwei.
Je näher die Erscheinung rückte, desto deutlicher nahm sie Gestalt an. Bis sie ganz klar vor ihm stand. Als greifbare Wirklichkeit.
Ein junges Paar drehte sich ohne Unterlass zu einem unhörbaren Walzer: Als tanzten sie die Erinnerung an einen Walzer unter den Sternen. Sie schritten großzügig auf den Steinplatten des leeren Platzes aus, und als sie zu ihm kamen und ihn schon berühren konnten, rief die Tanzende ihm zu: »Señor, wir werden gewinnen! Wir werden gewinnen!«
Bettini nahm die Brille ab, wischte sie sich an einem Hemdzipfel ab, und als er seine »Erscheinung« jetzt in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit vor sich sah, sagte er: »Machen Sie keine Witze, ich
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