Die Tarnkappe
sah Simon, dass etwas nicht stimmte. Der Mann besaß zwei Hüte. Einen hatte er umgedreht vor sich hingestellt, den anderen trug er auf dem Kopf, tief in die Stirn gedrückt, ein alter Strohhut, und darunter ein Kopftuch. Es umrahmte sein Gesicht und schien unverrückbar festgeknotet, bedeckte Ohren und Wangen, sogar sein Kinn. Zu sehen blieben nur noch Augen, Nase, Mund. Als wolle er etwas verbergen, dachte Simon. Vielleicht eine Brandnarbe, eine Entstellung, eine Hautkrankheit. Jetzt stand Simon dicht vorm Bettelnden. Der Mann trug ein rosa Hemd mit Löchern, eine enge kurze Radlerhose, dazu graue Wollsocken und Birkenstocksandalen. Der zweite Hut war mit ein paar müden Cent-Stücken gefüllt. Simon wollte schon wie üblich zwei Euro in den Hut werfen, doch da bemerkte Simon die Hosenklammer, eine neongelbe Hosenklammer mit Klettverschluss, die nicht im mindesten ihren Zweck erfüllte: In Kombination mit der kurzen Radlerhose wirkte sie entsetzlich fehl am Platz und auf so traurige Weise lächerlich, dass Simon, um dem aufkommenden Gefühl bodenloser Tristheit etwas entgegenzusetzen, einen Geldschein aus der Brieftasche zog, einen Zehn-Euro-Schein, sich zum Mann hinunterbeugte und den Schein in den Hut fallen ließ, wobei er bemerkte, dass die Hände des Manns keineswegs, wie es sich für einen Bettelnden gehört hätte, dreckig, stumpf, rissig und rau waren, sondern vielmehr zart und geradezu manikürt. Dieser Umstand sowie die Tatsache, dass der Mann mit keiner Regung auf Simons Großzügigkeit reagierte, ließen Simon innehalten. Nicht mal ein Danke , dachte er und ärgerte sich zu sehr, um ohne Bemerkung zu gehen.
»Sie könnten sich wenigstens bedanken!«, sagte Simon.
»Danke«, murmelte der Mann, ohne aufzublicken.
»Oder mich anschauen«, sagte Simon und wünschte sich sofort, diesen Satz nie gesagt zu haben, denn als der Mann vor ihm den Kopf hob und ihn anblinzelte, zuckte Simon zusammen, als hätten seine Augen sich an etwas verbrannt, er wandte sofort den Blick ab, wünschte einen guten Tag und eilte zurück zur Haltestelle, hörte in seinem Rücken ein Ha! , drehte sich noch mal um, der Mann war aufgesprungen, starrte Simon hinterher, mit ausgestrecktem Zeigefinger, doch Simon kam zur selben Sekunde bei der Haltestelle an wie die Straßenbahn, sprang hinein, ging nach vorn und setzte sich auf den Platz hinterm Fahrer, blickte aus dem Fenster, merkte, wie er zitterte, ließ Bogen um Bogen seiner Zeitung aus der linken in die rechte Jacketttasche wandern, las zwar, was geschrieben stand, aber das war nichts weiter als der verzweifelte Versuch, während der Fahrt den Gedanken an Gregor Strack unter Verschluss zu halten. Er hatte Gregor seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Woher hätte er wissen sollen, wie Gregor jetzt aussah? Es konnte nur eine flüchtige Ähnlichkeit sein, eine Ähnlichkeitsahnung. Simon zählte seine Atemzüge. Das wirkte immer wie ein kaltes Tuch gegen überbordende Gefühle. So auch jetzt, und als die Straßenbahn ihr Ziel erreicht hatte, stürzte sich Simon in die Arbeit, in seine nie enden wollende Akten-, Brief- und E-Mail-Arbeit, er dachte, jetzt, heute, mit Schwung, jetzt muss ich doch endlich mal fertig werden, vielleicht gelingt es mir heute. Einmal nur fertig werden, das war Simons Traum, einmal nur seinen Schreibtisch leergefegt zurücklassen, doch so sehr er sich beeilte, immer kam noch die zweite Post mit einem neuen Stapel Briefe oder der Bürobote mit einem Aktenberg, oder es trafen neue Beschwerde-E-Mails ein, die bearbeitet werden mussten, ich werde es nie schaffen, fertig zu werden, dachte Simon, das ist mein Los, das ist das Los der Menschen, dass wir es niemals schaffen, fertig zu werden.
3
S imon schob sich an Gregor vorbei in seine Wohnung. Gregor roch gut. Geradezu parfümiert. Überhaupt nicht so, wie ein bettelnder Mensch riechen musste, der womöglich in einem Wohnheim für Männer schlief. Im Gegenteil. Er roch nach Vanille, nach Flieder, nach was weiß ich, wonach der riecht, dachte Simon plötzlich, der riecht zu gut, Mensch, warum ist das so? Gregor schien merkwürdig nervös zu sein. Er schloss sofort die Tür.
»Wo ist der Schlüssel?«, fragte er Simon.
»Auf dem Schränkchen.«
Gregor steckte ihn ins Schlüsselloch, drehte zweimal um und legte ihn zurück. Verdammt, dachte Simon, was passiert hier? Gregor hat mich reingelassen, er mich , in meine Wohnung! Sofort spürte Simon einen Funken dieser Wut, seine r – wie er sie nannt e – alten
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