Die Tarnkappe
Denn Menschsein heißt Bibbern. Er ist bewaffnet, er sucht ihre Häuser auf, er ist schon da, und wenn er nicht da ist, so könnte er da sein. Aber das ist dasselbe. Er weiß genau, was er tut. Er schaut ihnen beim Leben zu. Sie sitzen dort, an ihren Tischen, auf ihren Sofas, liegen dort, in ihren Betten, gehen durch die Zimmer und lernen die Lebensdialoge auswendig, damit sie den Einsatz nicht verpassen, verkrümeln sich in nackte Ablenkung, leben wie angegossen. Eine Tür schlägt, ein Fenster klappert, ein Windhauch, ein Knarzen auf dem Parkett, ein Seufzen, etwas streift gerade ihre Arme, sie schrecken auf in der Nacht, sie machen Licht, sie können ihn nicht sehen, aber sie spüren seine eiskalte Hand auf der Stirn.
Es sind zu viele.
Viel zu viele.
Er würde es nie schaffen, alle Menschen zu töten.
Doch nach etlichen Wochen oder Monaten oder Jahren reinster Unsichtbarkeit, an einem wunderbaren, dunklen Tag, da will Simons Körper ein Glas in die Hand nehmen, ein simples Wasserglas, nur, um etwas zu trinken. Aber weil seine Hand seit wer weiß wie viel Zeit nichts mehr hat sehen können, fehlt ihr der Glaube, dass sie wirklich da ist, die Hand. Sie schwebt durchs Glas hindurch und kann das Glas nicht greifen. Das Glas bleibt Glas, aber die Hand löst sich auf, verliert ihre Substanz, ihre Materie. Es ist eine Befreiung. Simon breitet die Arme aus, steht dort, aber nicht mehr Simon steht dort, sondern nichts mehr, keine Hand mehr, kein Fuß mehr, kein Körper mehr, nur noch Körperluft, Simon zerfällt, seine Zellen lösen sich auf, er gibt sich ab an die Welt, zerstäubt, verteilt sich in die Atemwege, breitet sich aus, immer mehr, immer weiter, Stück um Stück, ein Teil seiner selbst sickert durch die Fensterritzen, etwas Bloch kriecht durchs Treppenhaus, in die Wohnungen der Nachbarn, die beim Essen sitzen, etwas Bloch schwebt unaufhaltsam hinaus in die Stadt, mischt sich mit der Luft der Welt, eine unhörbare Filmmusik, übertüncht vom Lärm des Lebens, eine Reise hinein in die Menschen, hinein in alle Menschen, hinein in uns. Nicht mehr Körper ist er, nicht mehr Geist, nur noch das Gefühl: Hier stimmt was nicht. Nicht mehr Körper ist er, nicht mehr Geist, nur noch die Gewissheit: dass wir sterben werden. Er steht nicht mehr in Raum und Zeit. Wir haben ihn längst eingeatmet. Er kommt nicht mehr von außen auf uns zu. Wir tragen ihn längst in uns. Er ist da. Und niemals werden wir ihn wieder los. Keiner von uns.
Impressum
Das ist die vollständige E-Book-Ausgabe des im Jahr 2011 im Verlag Schöffling & Co. erschienen Buchs.
2011
© Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH,
Frankfurt am Main 2011
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: © Matthias Wachter
E-Book-Konvertierung: Fotosatz Amann, Aichstetten
ISBN 978-3-89561-963-2
www.schoeffling.de
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Kurzbeschreibung
Unsichtbar sein. Sehen können, ohne selber gesehen zu werden. Dinge tun, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen: Jeder hat sich das schon einmal gewünscht.
Simon Bloch, Mitte vierzig, erhält eine solche Chance. Seinen Lebenstrau m – Filmkomponist zu werde n – hat er längst beerdigt und sich eingenistet in alltäglicher Routine.
Da gelangt er vollkommen unerwartet in den Besitz einer seltsamen Kappe. Als er sie aufsetzt, verschwindet er vor seinen eigenen Augen und spürt »ein Knistern, etwas, was tief in ihm geschah und zugleich auf der Oberfläche, ganz so, als kehre sich alles Verborgene nach außen und alles Äußere nach innen«. Blochs Leben gerät aus den Fugen. Zunächst versetzen ihn die neuen Möglichkeiten in einen Rausch. Doch bald werden seine Fragen dringlicher: Wer hat ihm die Tarnkappe zugespielt? Wie funktioniert sie überhaupt? Und: Was macht sie mit ihm?
Um das herauszufinden, muss Simon Bloch Dinge tun, die er niemals für möglich gehalten hätte.
Markus Orths verleiht einem faszinierenden literarischen Motiv seinen eigenen mitreißenden Sound. Ein Schwindel erregender, wilder Trip ins Nichts: hinein in das, was wir nicht sehen könne n – oder nicht sehen wollen.
Autorenporträt
Markus Orths, 1969 in Viersen geboren, lebt in Karlsruhe. Seine Romane, inzwischen in 1 4 Sprachen übersetzt, wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem open mike (2000), dem Förderpreis des Marburger Literaturpreises (2003), dem Heinrich-Heine-Stipendium (2006) und dem Sir Walter Scott-Preis (2006). Zuletzt
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