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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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    |7| 1.
    Eine lange Reihe abgasgeschwärzter Häuser, die sich in Pfützen spiegelten, trocknete an der Wäscheleine in der Küche, er stieß
     sie im Vorbeigehen an. Es schneite, die Autos krochen, die weißen Hauben auf den Mülltonnen waren noch unberührt. Den Tee
     hatte er bereits in die Thermoskanne gefüllt, ein Streufahrzeug bog um die Ecke. Der bleibt nicht liegen, dachte der alte
     Mann, prüfte nochmals, ob er den Verschluss fest genug zugedreht hatte, es wird wieder regnen, und die Bürgersteige werden
     knirschen vom Streusand.
    Er wickelte die Kanne in Küchenpapier, holte eine Plastiktüte unter der Spüle hervor, legte die Kanne hinein und drehte die
     Tüte zu einer Wurst zusammen. Einmal war sie ausgelaufen, die Ausrüstung heil geblieben, aber eine neue Tasche hatte er kaufen
     müssen. Die Tasche, kastenförmig, schwarz und innen mit rotem Filz ausgeschlagen, stand aufgeklappt auf dem Küchentisch, die
     Thermoskanne kam ganz nach unten. Er wollte mit dem Zug fahren, nach Frankfurt/Oder, den Fluss fotografieren oder Alleelinden
     im Schnee, falls vorhanden. Die Brote, zwei Mett, zwei Schmelzkäse, hatte er in Wachspapier verpackt, sie gehörten in die
     Lücke zwischen Kanne und Taschenwand. Als Kind war er einmal in Frankfurt/Oder gewesen. Er konnte sich |8| an kein Haus, keine Straße, kein Geschäft erinnern, nicht an den Bahnhof und nicht an den Namen der Cousine, die sie besucht
     hatten. Er faltete zwei Blätter Küchenkrepp akkurat in der Mitte und legte sie auf die Kanne, als Trennschicht zwischen Verpflegung
     und Ausrüstung. Nur an die Ecke des weinroten Sofas, in der er gesessen hatte, während seine Mutter und die Cousine redeten
     und lachten. Und an den hellblauen Schmetterling mit Flügeln so groß wie seine Handflächen, der hinter goldgerahmtem Glas
     über dem Sofa hing. Der Schmetterlingskörper ähnelte einer Zigarre, sah aus, als hätte er ein spürbares Gewicht. Ekel hatte
     ihn geschüttelt, als er sich das Gewicht auf seiner Hand vorstellte. Auf die Trennschicht kam das zusammengeklappte Stativ,
     die Schachteln mit den neuen Filmen klemmte er zwischen Stativ und Taschenwand, sonst verrutschte es beim Gehen. Er hatte
     die Cousine gefragt, ob der Schmetterling beim Präparieren ausgehöhlt und neu gefüllt worden war. Sie wusste es nicht. Auf
     das Stativ kamen die Kamera, als Letztes die Objektive, in weiche Tücher gewickelt. Aus mehr bestand Frankfurt/Oder nicht,
     er klappte den Taschendeckel zu. Frankfurt/Oder war ihm gleichgültig, er wollte mit dem Zug fahren durch vorbeifliegenden
     Wald im Schnee.
    Die Filme von gestern mussten in die Dunkelkammer, er überlegte, ob er die Regenhaube für die Kamera einpacken sollte. Er
     ließ es bleiben, er musste schneller als der Regen sein. Er nahm eine der Mützen vom Garderobenbord, prüfte kurz im Spiegel,
     ob sie gerade saß. Sein Mantel musste ausgebürstet werden, der Kragen |9| war übersät mit weißen Hautschuppen, sie rührten sich nicht, als er mit der Handfläche drüberrieb. Seine Arme fuhren in die
     zerknitterten Ärmel, es würde bald regnen, er hatte keine Zeit. Wenn der Zug am Ostbahnhof heute wieder zu spät kam, würde
     er nicht bezahlen.
    Er hängte die Fototasche über seine Schulter, nahm die Handschuhe aus der Konsolenschublade, braune Lederhandschuhe, an den
     Ballen hellgescheuert. Sie waren eng, es dauerte, bis er sie über die Finger gezogen hatte. Die Handschuhe waren wichtig,
     seine Finger froren immer zuerst. Und mit steifen Fingern dauerte das Herumtasten an der Kamera, das Suchen nach den ständig
     kleiner werdenden Knöpfen und Rädchen noch länger.
    Vor der Haustür lag seine zusammengefaltete Zeitung auf dem grauen Linoleum, die Schlitze der Briefkästen waren zu eng. Vor
     drei Jahren hatte die Hausverwaltung das letzte Mal auf einen seiner Briefe geantwortet. Seitdem ging er ein Stockwerk tiefer
     von Zeit zu Zeit eine große Kurve über die Zeitungen der Nachbarn, darauf achtend, dass auf jeder mindestens ein kompletter
     Schuhabdruck zu sehen war. Sollten sie doch Briefe schreiben.
    Als er die Eingangstür öffnete, wäre er fast mit dem Jungen aus dem dritten Stock zusammengestoßen. Der Junge zuckte zurück,
     und kurz sah es aus, als wollte er weglaufen. Ein schmächtiges, blasses Kerlchen, der Schulranzen ragte rechts und links über
     die Schultern hinaus, ein hellblauer Turnbeutel lag neben ihm auf dem Boden. Er selbst war auch so ein Kerlchen gewesen, |10|

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