Die Tarnkappe
wurde, dass Glas um ihre Füße splitterte, dass ein Körper, ein Menschenkörper, sich durch die Scheibe in ihre Arme warf. Simon hätte brüllen oder die Kappe vom Kopf reißen oder Miriam packen oder ins Lenkrad greifen oder aus der Seitentür stürzen können. Tat aber nichts. Da blieb etwas still in ihm. Da hatte sich etwas ausgehaucht. Da zuckte er mit den Schultern und sagte sich: Sei’s drum. Da hoffte er für eine Sekunde, es wäre gleich alles vorbei. Aber Miriam Hackethal warf im letzten Augenblick ihr ganzes Gewicht aufs Bremspedal. Es blieb ihr erspart, das Knacken der Knochen zu hören, das Platzen der Hülle Haut, das Quetschen der Eingeweide, es blieb ihr der Schmerz erspart, der wie ein Geburtsschmerz das Nichtleben eingeläutet hätte, das zu wählen ihr die Kraft fehlte. Der Wagen kam zehn Meter vor der Eiche zum Stehen. Er rauchte aus. Springt man von der Brücke, so gibt es kein Zurück mehr, bedarf es nur eines einzigen Augenblicks der Überwindung. Dann läuft alles wie von selbst: Fallen die Augen aus dem Kopf zu Boden, fünfzig Meter, sehen, schon ehe der Körper aufschlägt, das Ende voraus, Umkehren unmöglich, Bremsen unmöglich, da fällt das Tier, es wirbelt durch die Luft und knackt sich aus. Ein Stöhnen noch. Dann ist es vorbei. Und das Blut sickert zur Ameise, die jetzt einen Umweg machen muss.
Miriam weinte nicht. Sie sah blass aus. Simon, der immer unangeschnallt dort sitzen musste und sich beim Bremsen heftig festgehalten hatte, um sich keine blutige Nase zu holen, hätte Miriam jetzt am liebsten die unsichtbare Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: Ich bin bei dir. Ich kann dir helfen. Ich kann ein Loch in den Bremsschlauch bohren, ohne dass du es merkst. Ich bin stärker als du. Ich bin die unsichtbare Kraft, die du nicht hattest und nie haben wirst. Du kannst mir vertrauen, Miriam, ich bin da. Ich kann dich trösten, dich töten. Miriam fuhr zurück nach Hause, und Simon blieb allein im Wagen sitzen. »Bis bald«, sagte er leise, kletterte durch die Mitte nach vorn, startete den Wagen und fuhr los. Laut Todesanzeige sollte Gregor übermorgen beerdigt werden. Die Leiche des Ermordeten war erst spät freigegeben worden. Neben Simon stand ein Mercedes in der Abbiegespur. Erst am Grauen in den Augen des Fahrers merkte Simon, dass er die Kappe noch trug.
28
D ie Beerdigung vollzog sich in bescheidenem Rahmen. Simon näherte sich der Trauergruppe. Vierzig Menschen. Wie viele würden einst an seinem eigenen Grab stehen? Er wusste es nicht. Noch nicht. Simon hatte mit seinen Eltern oft zum Grab der Familie gemusst, Allerheiligen, Jahrestage, es lagen schon Vorfahren drin, und da mussten sie immer stehen, still sein und traurig gucken, die Stimmung wurde verteilt wie Zettel, auf denen Bedrücktsein stand, sie schwiegen vor sich hin, und danach wurde das Grab gemacht, wie es hieß, und das ewige Licht ausgetausch t – wie kann man ein ewiges Licht austauschen ? –, es wurde Unkraut gerupft, und Simon fragte sich als Kind, wie so viele Särge übereinander gestapelt dort drin liegen konnten und wie tief man graben musste, damit auch alle Särge Platz fanden, und wie weit die Särge, und nicht nur die Särge, sondern auch deren Inhalt, bereits vergammelt waren und die Vorfahren die Erde düngten, auf der das Unkraut wuchs, das seine Eltern rupften und wegwarfen, somit rupften sie auch seine Vorfahren und warfen sie weg, stellte er sich vor, und das war das, was man Grabpflege nannte. Jetzt also Gregor hier. Der Sarg schien zu schweben, auf Höhe der Erdkrume, und darauf zu warten, dass man ihn hinabfahren würde, ins Tiefe. Nackt der Sarg aus Holz, nackt im Sarg der Gregor, unterm Totenhemd. Simon schwang sich vom Rand der Grube auf den Deckel des Sargs und blickte über die Schar der Trauernden. Ein König auf dem Thron des Todes. Er breitete die Arme aus. Aber niemand sah ihn. Man fuhr den Sarg langsam hinab. Das zitterte. Als der Sarg an seinem Ziel angekommen war, befand sich Simons Scheitel auf Höhe der Grasnarbe. Er blickte hinaus und sah schwarze Trauerschuhe. Dann kauerte er sich ans Kopfende. Er schnupperte. Das roch nach Kellerraum. Die Ränder des Grabs waren mit grünen Gummimatten verhangen. Simon spürte einen Tropfen und hielt die Handflächen auf, aber das war kein Regen, nein, der Priester wedelte Weihwasser ins Grab. Es fiel jetzt Erde zu Erde und Staub zu Staub. Hoch oben erschien das Gesicht des Werfenden, Simon sah die Unterseite der Schaufel und die Erde,
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