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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Körper wie einen Mantel ausziehen! Endgültig. Nicht mehr unterworfen den schäbigen Bedürfnissen. Ihn ausmerzen. Ihn hinter mich bringen. Ihn überwinden. Den Hunger. Den Durst. Den Trieb. Die Ausscheidungstortur. Was bringt er uns, der Körper? Er ist von Anfang an verlobt mit dem Ende und zieht den Tod hinter sich her wie eine Schleppe. Und Miriam? Nein, Simon würde sie fortan in Ruhe lassen. Nicht mehr zu ihr ins Bett kriechen. Wonach er sich sehnte, das war ein Mensch wie er selbst. Ein Seinesgleichen. Ein unsichtbarer Mensch, dachte Simon und fragte in die Stille des Raums: »Anna? Bist du hier?« Natürlich war sie hier, immer war sie dort, wo er sich gerade befand, unter ihrer ureigenen Kappe. Simon breitete seine Hände aus, wollte Anna einfangen, lief durch die Wohnung, aber seine Hände griffen ins Leere. Wenn ich dich nicht berühren kann, bist du nicht da.
    Als Simon die Kappe an diesem Morgen abnahm, war der Schmerz kaum noch zu ertragen. Simon fragte sich, ob er, wenn es irgendwann darauf ankäm e – bald, bald, bald , – stark genug wäre, die Kappe für immer aufzubehalten oder ob er sie würde abgeben müssen, einem anderen bringen, so, wie Gregor die Kappe ihm gebracht hatte. Bald wären alle Haare ausgerupft, die Wunden würden seinen Kopf zerreißen und Blut ihm ins Hirn sickern. Doch Simon hatte keinesfalls Angst vor diesem Tag, im Gegenteil, er wollte die Entscheidung herbeiführen, und dazu klammerte er sich an einen Teil seines Wesens, der längst verschüttet schien, aber noch einmal in ihm erwachte: sein unbändiger Sinn für Struktur und Routine. In den nächsten Tagen lief alles ab nach identischem Muster. Das tat ihm gut, obwohl er wusste, es ist das letzte Zucken vor dem Tag, der über Leben und Tod, über Sehen und Gesehenwerden, über Kappe oder Nichtkappe entschied.
    Jeden Morgen, nachdem Miriam Hackethal ihre Wohnung verlassen hatte, nahm Simon die Kappe ab. Er brauchte immer länger, um die Schmerzen zu betäuben und die Wunden zu verarzten. Er aß eine Kleinigkeit, von Tag zu Tag ein bisschen weniger. Er trank etwas, setzte sich zwei Stunden lang in Miriams Sessel und tat nichts. Anschließend stopfte er die Kappe unters Hemd, verließ das Haus und gesellte sich unter die Menschen. Als sichtbarer Mensch unter Sichtbare. Er wollte noch einmal teilhaben am Leben und an alldem, was ihm bis vor wenigen Wochen als Welt und Wirklichkeit gegolten hatte. All das sichtbar spüren und sehen und riechen und hören, was alle anderen sichtbar spürten und sahen und rochen und hörten. Genau wissen, worauf er verzichtete, wenn er sich für die Kappe entscheiden würde. Noch einmal den Zuckerschweiß des Lebens atmen. Er beobachtete die Leute, offen, ohne Scheu. Hatte keine Angst davor, dass man ihn erkennen könnte: Sein Gesicht war verzerrt, er trug Sonnenbrille und Strohhut und unterm Strohhut ein Kopftuch mit schmerzstillender Salbe.
    Die ersten Vormittage ohne Kappe beobachtete er Lachen, Lebensfreude, Zufriedenheit, Glück, Sinn, Liebe, ging hinter den Sich-Nahen her, hinterging sie, Hand in Hand, eine Klammer, die Finger wie die Glieder einer Kette, die ineinandergreifen, Arm in Arm, ein Arm auf der Schulter des einen, ein Arm im Kreuz des anderen. Sie schlendern, sie fühlen sich gut. Diese Tiere, die übereinander herfallen und sich reiben und danach, wenn alles zu Ende ist, so furchtbar traurig schauen, post coitum omne animal triste . Lachen fällt aus ihren Mündern auf den Boden, liegt dort, zerbrochen, Nachgeschmack des Lachens, fader Mundgeruch. Gäbe es nur nicht diese verdammten Wiederholungen, Krebsgeschwüre des Lebens, gäbe es nur keine Tage, Monate, Jahre, gäbe es nur nicht dieses Uhr-Ticken, das jeden Augenblick in ein berechenbares Raster presst und verhindert, dass er aus dem Rahmen fallen könnte. Man müsste den Lauf der Planeten anhalten, die Tag- und Nachtschichten der Sonne abschaffen, alles ausradieren, die Natur neu erfinden: Die Sonne macht einfach, was sie will, erscheint mal kürzer, mal länger, räkelt sich in fieser Faulheit oder haut einfach mal auf unbestimmte Zeit ab, und man weiß nie, wann sie wiederkommt oder ob sie überhaupt wiederkommt, man ringt bei jedem Verschwinden der Sonne die Hände, bettelt um neues Erscheinen, und jedes neue Erscheinen ist Fest. Kein Aufstehen-Müssen, kein missmutiges Kopfschütteln, kein Wecker-an-die-Wand-Ballern, kein Zeitungsfalten, keine Straßenbahnfahrt, kein endloses Sich-Beschweren, kein eintöniges

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