Die Teerose
die vier Pence, die sie bereits hatte, würden reichen, um heute abend, aber auch morgen und übermorgen Gin und Schlafplatz zu bezahlen. Obwohl sie sich hundeelend fühlte, konnte sie das Angebot nicht ausschlagen.
Schweigend gingen Polly und ihr Freier an baufälligen Gebäuden und hohen Lagerhäusern vorbei den Weg zurück, den sie gekommen war. Der Mann schritt kräftig aus, so daß sie Mühe hatte, ihm nachzukommen. Als sie ihn musterte, stellte sie fest, daß er ausgesprochen teuer angezogen war. Vermutlich hatte er auch eine hübsche Uhr bei sich. Jedenfalls müßte sie im richtigen Moment seine Taschen durchwühlen. Am Ende der Bucks Row, vor dem Eingang zu einem Pferdestall, blieb er plötzlich stehen.
»Nicht hier«, protestierte sie und rümpfte die Nase. »Bei dem Schmied … ein bißchen weiter unten …«
»Das geht schon«, antwortete er und drückte sie gegen zwei verrostete, mit einer Kette gesicherte Blechplatten, die als Stalltor dienten.
Sein Gesicht leuchtete unheimlich hell in der zunehmenden Dunkelheit, und seine wächserne Bleiche stand in grellem Gegensatz zu seinen kalten, schwarzen Augen. Ihr wurde schlecht, als sie ihn ansah. O Gott, betete sie insgeheim, hoffentlich muß ich mich nicht übergeben. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor einem ganzen Shilling. Sie zwang sich, tief Luft zu holen, und unterdrückte den Brechreiz. Während sie dies tat, atmete sie seinen Duft ein – Makassaröl, süß, und etwas anderes … was war das? Tee. Es war Tee, um Himmels willen.
»Also los jetzt«, sagte sie. Sie hob ihre Röcke und fixierte ihn mit einem matt erwartungsvollen Blick.
Die Augen des Mannes glitzerten jetzt dunkel wie glänzende schwarze Ölteiche. »Du dreckige Hure«, sagte er.
»Keine Sauereien heut, Süßer. Ich bin ein bißchen in Eile. Soll ich dir helfen?« Sie streckte die Hand aus. Er schlug sie weg.
»Hast du wirklich gedacht, du könntest dich vor mir verstekken?«
»Hör zu, willst du jetzt …«, begann Polly. Sie beendete ihren Satz nicht mehr. Ohne Vorwarnung packte sie der Mann an der Gurgel und drückte sie gegen das Tor.
»Laß los!« rief sie und holte gegen ihn aus. »Laß mich gehen!«
Er packte sie noch fester. »Du hast uns verlassen«, sagte er mit vor Haß brennenden Augen. »Hast uns wegen der Ratten verlassen.«
»Bitte!« keuchte sie »Bitte tu mir nicht weh. Ich weiß nichts von Ratten, das schwör ich … ich …«
»Lügnerin.«
Polly hatte das Messer nicht kommen sehen. Sie hatte keine Zeit zu schreien, als es in ihren Bauch eindrang und rumgedreht wurde. Als er es wieder herauszog, stieß sie ein leises Stöhnen aus. Verständnislos, den Mund zu einem großen O geformt, starrte sie mit aufgerissenen Augen auf die Klinge. Langsam und vorsichtig betastete sie mit den Fingern die Wunde. Sie waren leuchtend rot, als sie die Hand zurückzog.
Sie hob den Blick, stieß einen wilden, entsetzten Laut aus und sah dem Wahnsinn ins Gesicht. Der Mann hob sein Messer und schlitzte ihre Kehle auf. Sie sackte zusammen, Dunkelheit umgab sie, hüllte sie ein, und sie versank in einem dichten, erstickenden Nebel, der tiefer war als die Themse und schwärzer als die Londoner Nacht, die sich auf ihre Seele senkte.
Erster Teil
1
D er Duft der frisch gerösteten indischen Teeblätter war betäubend. Er drang aus Oliver’s Wharf herüber, einem sechsstöckigen Lagerhaus am Nordufer der Themse, und zog die Old Stairs hinab, eine Steintreppe in Wapping, die von der gewundenen, mit Kopfstein gepflasterten High Street zum Fluß hinunterführte. Der Duft des Tees überlagerte alle anderen Gerüche der Docks – den säuerlichen Gestank des schlammigen Ufers, den salzigen Geruch des Flusses, die intensiven Düfte von Zimt, Pfeffer und Muskat aus den Gewürzlagern.
Fiona Finnegan schloß die Augen und atmete tief ein. »Assam«, sagte sie zu sich selbst. »Für einen Darjeeling ist der Geruch zu stark, für einen Dooars zu intensiv.«
Mr. Minton, der Vorarbeiter bei Burton’s, sagte, sie habe ein Näschen für Tee. Es machte ihm Spaß, sie zu testen und ihr eine Handvoll Blätter unter die Nase zu halten, die sie dann benennen mußte. Sie täuschte sich nie.
Ein Näschen für Tee? Vielleicht. Die Hände dafür ganz sicher, dachte sie und öffnete die Augen, um ihre abgearbeiteten, vom Teestaub schwarzen Hände anzusehen. Der Staub setzte sich überall fest. Im Haar, in den Ohren, im Innern ihres Kragens. Seufzend rieb sie mit dem Rocksaum den
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