Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
1. Prolog
Freundschaftsdienst
Audra tupfte die Wangen ab. Vorsichtig, denn sie wollte die Schminke nicht verwischen. Im Schutz der Ärmelrüschen verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. Diese elende Tinktur, mit der die bestickte Ecke ihres Taschentuchs präpariert war, ließ die Augen fast zu stark tränen!
Schließlich riss sie sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf ihre Vorstellung. Sie hob den Kopf, imitierte ein Schluchzen und nutzte die Gelegenheit, Lord Standfort zu beobachten.
Der Baron stand an der Holzvertäfelung, als erwarte er, jeden Moment sein Todesurteil zu vernehmen. Nervös knetete er die Finger, bewegte die Lippen und flehte vermutlich göttlichen Beistand herbei.
Wieso liebte ein derart gut aussehender, intelligenter Mann ausgerechnet einen Hohlkopf wie Ida?
Zu gern hatte diese dumme Pute sich von ihr weismachen lassen, dass auf dem Kontinent längst das Handauflegen zur Geburtserleichterung benutzt wurde. Hatte ihr den Unsinn abgenommen, dadurch kämen die Kinder fast ohne Anstrengung und Schmerzen zur Welt.
Als Audra angeboten hatte, ihr nötigenfalls auf diese Weise in ihrer schweren Stunde zu helfen, hatten Idas Augen geleuchtet, als verspreche sie ihr ein Geschenk.
Audra wartete den letzten Schlag der Standuhr ab. Dann räusperte sie sich, richtete sich noch ein wenig mehr auf und sagte: »Mein werter Freund, genug der Tränen. Ich muss jetzt stark sein. Lasst mich zu Ida. Ihr kennt mich, ich würde alles für meine liebste Freundin tun.«
Natürlich kannte er sie ganz und gar nicht
, dachte sie bei sich.
Er hielt sie für eine Lady, die nach dem Tod ihres Ehemannes wieder aus dem Ausland in die alte Heimat gezogen war und sich mit seiner Ida angefreundet hatte. Und so sollte es auch bleiben.
Lord Standfort sah sie müde an. Er gab nichts auf ihre vorgeblichen Fähigkeiten, durch Handauflegen Wunder bewirken zu können, das wusste sie, jedoch liebte er seine Frau. Zusammengesunken stand er da, als hätte er Ida und das Ungeborene bereits aufgegeben.
Audra erhob sich von dem Armsessel und strich das Kleid glatt. Mit einem hastigen Blick in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand des Salons vergewisserte sie sich, dass ihre äußere Erscheinung der Rolle der besorgten Freundin entsprach: verweinte Augen und Lippen, die fast so bleich wie der Rest ihres Gesichts geschminkt waren.
Sie ging zu Standfort und legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Vertraut mir und dem Doktor«, säuselte sie. »Er ist der Beste seines Fachs, sonst hätte ich ihn Euch nicht empfohlen. Alles wird gut.«
Der Mann nickte mechanisch.
Sie wertete das als Zustimmung, ließ sich von einer der Bediensteten bis vor Idas Schlafzimmer geleiten und öffnete die Tür.
Der Schweißgeruch raubte ihr beinahe den Atem.
Schwere Brokatvorhänge verhüllten die Fenster und ließen weder Licht noch Luft herein. Dafür leuchteten neben den Gaslichtern unzählige Kerzen. Gemeinsam mit dem Kaminfeuer erhitzten sie das Zimmer fast unerträglich.
Seit Audra auf dem Kontinent gelebt hatte, zog sie gelüftete Räume vor, doch ihr Heimatland Anglia war in einigen Dingen schrecklich rückständig. Die Menschen mieden Frischluft, als übertrage diese Krankheiten.
Der Arzt beugte sich gerade über seine Patientin, kontrollierte den Puls und hörte sie ab. Als er Audra erblickte, schüttelte er den Kopf, als schockiere ihn ihre Gegenwart.
Unbeirrt steuerte sie auf das Bett zu, in dem Ida lag.
»Aber Mylady ...«, wagte er zu sagen.
Sie unterbrach ihn harsch und teilte ihm mit, dass der ehrenwerte Baron ihr erlaube, ihm zur Hand zu gehen.
Der Mann schnaubte. Unfreundlich herrschte er Idas Zofe, die bisher seine Aufträge erfüllt hatte, an, sie solle ihm nicht weiter im Wege stehen und verschwinden. Das junge Mädchen knickste und rannte hinaus, wobei ihr Gesichtsausdruck offensichtliche Erleichterung verriet.
Audra betrachtete die werdende Mutter. Ida war zu betäubt, um sie zu bemerken. Mit geschlossenen Augen lag sie in dem prächtigen Bett und ihre Hände ruhten entspannt auf dem blütenweißen Laken. Der Doktor hatte offenbar nicht mit Narkosemittel gespart.
»Alles wie geplant verlaufen?«, fragte sie ihn.
»Sehr viel länger hätte ich die Geburt nicht zurückhalten können, ohne sie zu töten. Konntet Ihr nicht eher kommen?«, knurrte er.
»Ungeduld ist das Verderben der Narren. Nachdem der Baron ursprünglich nicht wollte, dass ich mich einmische, musste es eben auf diese Weise gehen. Nun, dann lasst uns
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