Die Teerose
Schwarze Kostüme und Anzüge, schwarze Lederhandschuhe, schwarze Hutnadeln und Broschen aus Jett. Hier ein Schniefen, dort ein schnell unterdrücktes Schluchzen. Zarte Taschentücher, die an feuchte Augen gedrückt wurden. Kein lautes oder unziemliches Betragen.
Dies war keine Totenwache in Whitechapel, sondern ein vornehmes New Yorker Begräbnis, und die gesamte gute Gesellschaft war anwesend. Leute vom Museum, Künstler, die Nick vertreten hatte, ihre Kollegen und Kunden aus dem Teehandel, viele ihrer Angestellten. Seamie, ihr Onkel Michael und Mary, Ian, der jetzt erwachsen und Bankier war, die zehnjährige Nell, Sean und Pat, die sechsjährigen Zwillinge. Baby Jenny, auf Marys Arm, und Alec, der mit fünfundsiebzig immer noch rüstig war. Fiona wußte, daß sie sich vor all diesen Menschen zusammenreißen und ihre wahren Gefühle verbergen mußte. Vollkommen bewegungslos, mit herunterhängenden Armen und geballten Fäusten stand sie ganz allein mit ihrer Trauer und ihrem Zorn da und wünschte, der Pfarrer würde endlich mit seinem albernen Gewäsch aufhören.
Schon vor langer Zeit, als sie ihre Familie und fast auch das eigene Leben verloren hatte, war Fiona zu dem Schluß gekommen, daß Gott wenig mehr als ein abwesender Hausbesitzer war. Nachlässig, desinteressiert, mit anderen Dingen beschäftigt. Seitdem war nichts geschehen, um ihre Ansicht zu revidieren. Sie fand es schwierig, an ein höheres Wesen zu glauben, das zugelassen hatte, daß ihre Eltern einen grausamen Tod starben, während die Mörder fröhlich weiterleben durften.
Was können Sie mir über Trauer erzählen, Reverend? fragte sie sich und sah in sein gutmütig ernstes Gesicht. Sie kannte sich aus damit und wußte, daß das Unerträgliche nicht zu ertragen war. Man konnte allenfalls hoffen, es zu überleben.
Sie beobachtete, wie Nicks Sarg in die Erde gesenkt wurde. Der Pfarrer streute Erde darauf und erinnerte die Anwesenden, daß sie Staub waren und zu Staub zurückkehren würden. Dann war es vorbei. Die Leute begannen, vom Grab wegzugehen. Fiona blieb stehen. Anschließend gäbe es ein Abendessen bei Michael. Wie würde sie das durchstehen? Sie spürte einen starken Arm um ihre Schultern. Es war Seamie. Er küßte sie auf den Kopf. Das konnte er inzwischen, denn mit fünfzehn überragte er sie bereits und war seinem Bruder Charlie wie aus dem Gesicht geschnitten. Allerdings war er größer als sein Bruder im selben Alter, wenn auch nicht so muskulös, und ein perfekter kleiner amerikanischer Gentleman, kein großtuerischer Junge aus Ostlondon. Doch mit seinen schelmischen grünen Augen, seinem offenen Lachen, seinem guten Herz und seiner männlichen Haltung war er das genaue Ebenbild seines älteren Bruders.
Charlie wäre jetzt sechsundzwanzig, dachte sie. Ein erwachsener Mann. Sie fragte sich, was er aus seinem harten Leben in London gemacht hätte, genauso wie sie sich fragte, was Seamie nach seiner Privatschule mit den sommerlichen Wanderferien, den winterlichen Skiausflügen und den vielen anderen Privilegien und Vergünstigungen aus seinem machen würde.
Jahrelang hatte sie gehofft, Seamie würde nach dem Examen in die Stadt zurückkehren, bei ihr wohnen und in ihr Geschäft einsteigen. Aber als er älter wurde, kamen ihr Zweifel. Der Junge wollte nur in der freien Natur sein. Die Schulferien verbrachte er beim Wandern oder Kanufahren in den Catskills und Adirondacks und brannte darauf, die Rockies und den Grand Canyon zu erforschen. Nichts machte ihm größere Freude, als eine neue Pflanze, ein Insekt oder Tier zu entdecken. Seine Noten spiegelten seine Interessen wider – er war Klassenbester in Naturwissenschaften, Mathematik, Geographie und Geschichte. Und letzter in Englisch, Latein und Französisch.
»Der Junge hat die Seele eines herumwandernden Kesselflikkers«, sagte Michael oft. »Genau wie dein Pa, bevor er deine Ma kennenlernte. Sicher kriegst du ihn nicht dazu, Tee zu verkaufen. Er wird sich in unerforschte Länder aufmachen.«
Fiona wußte, daß ihr Onkel recht hatte. Seamie würde durch die Welt reisen. Nicks Erbe und das Treuhandvermögen, das sie für ihn eingerichtet hatte, würden ihm das erlauben. Er würde ihr aus Kairo, Kalkutta und Katmandu schreiben und zwischen zwei Abenteuern bei ihr auftauchen, aber er würde nicht im Teehandel arbeiten und auf der Fifth Avenue wohnen. Sie würde in ihrem großen schönen Haus allein alt werden.
»Komm, Fee«, flüsterte Seamie und drückte sie. »Es ist Zeit zu
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