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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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wäre es ein wundervoller Ort. Ein Ort, wo es immer Juni war, immer warm, und wo immer Rosen blühten. Ein Ort, an dem er mit Henri glücklich leben konnte.
    Er lehnte sich auf seine Kissen zurück und fühlte sich ruhiger, hatte weniger Angst. Aber dann bedrückte ihn ein anderer Gedanke. Wenn er jetzt zu Henri ging, was würde aus Fiona werden?
    Er drehte den Kopf und sah sie an. Sie schlief in einem großen Sessel, den Foster nah ans Bett hatte schieben müssen, und in ihrem Schoß lag ein offenes Buch. Während der vergangenen Nächte hatte er es geschafft, sie gegen Mitternacht in ihr eigenes Bett zu schicken, aber heute nacht hatte sie sich geweigert, ihn allein zu lassen. Sie hatte sich aufgesetzt, wann immer er aufwachte, bis die Erschöpfung sie schließlich übermannt hatte.
    Wie sehr er dieses Gesicht mit dem entschlossenen Kinn, dem vollen Mund und den ehrlichen blauen Augen doch liebte. Sie konnte so hart und herrisch sein, wenn es ums Geschäft ging, aber zu denen, die sie liebte, war sie freundlich, großzügig und vollkommen hingebungsvoll. Sie hatte ihm so viel Glück geschenkt. Er lächelte, wenn er an die Überraschungen dachte, die das Leben bereithielt. Als er, von seinem Vater vertrieben, London verließ, war er allein gewesen, ohne Freunde, ohne einen Menschen, der auf ihn achtete. Und dann hatte er sie gefunden. Er erinnerte sich, wie sie auf dem Bahnsteig ausgesehen hatte, als sie seine Sachen aufhob – ihr gequältes Gesicht, ihre schäbigen Kleider und ihr Akzent! Damals hätte er sich nicht vorstellen können, dieses Mädchen aus dem Londoner Armenviertel zu heiraten, mit ihr in einem New Yorker Herrenhaus zu leben, glücklich zu sein und sich geliebt zu fühlen.
    Er wünschte sich so viel für sie – Erfolg und Sicherheit, aber am meisten wünschte er sich, daß sie jemanden fand, dem sie ihr Herz schenken konnte. Jemanden, der verstand, wer sie war, der nie versuchen würde, sie zu ändern, jemanden wie diesen Jungen, den sie in London geliebt hatte. Der dumme Junge hatte ein Juwel verloren, als er sie aufgab.
    Und dann sah er Henri wieder. Er ging von ihm weg auf ein wunderschönes Steinhaus inmitten eines Lavendelfelds zu. Er trug einen alten blauen Kittel, seine Hände waren mit Farbe beschmiert. Er drehte sich um, winkte ihm zu, und plötzlich konnte Nick die köstliche Sommerluft riechen und den Sonnenschein auf seinem Gesicht spüren. Er ging nach Arles. In ihr Haus in Südfrankreich. Natürlich! Hatte Henri nicht immer gesagt, daß sie dort leben sollten?
    »Ich kann nicht«, flüsterte er schluchzend. »Ich kann sie nicht verlassen.«
    Im seinem von Mondlicht erhellten Schlafzimmer reckte er den Kopf, als lausche er auf eine ferne Stimme. Er nickte und wandte sich dann der schlafenden Fiona zu.
    »Dir wird’s gutgehen, Fee«, flüsterte er. »Bestimmt.«
    Fiona schreckte hoch. »Was ist, Nick? Alles in Ordnung? Brauchst du Dr. Eckardt?«
    »Mir geht’s gut.«
    Schlaftrunken blinzelte sie ihn an. »Was ist dann?«
    »Ich wollte dir nur sagen, daß ich dich liebe.«
    »O Nicholas, ich liebe dich auch«, antwortete sie, vor Erleichterung lächelnd, und streichelte seine Wange. »Schlaf jetzt weiter. Du brauchst Schlaf.«
    »Ja, gut«, sagte er und schloß die Augen, um sie zu beruhigen.
    Fiona setzte sich in ihren Sessel zurück und nahm ihr Buch auf. Kurz darauf war sie wieder eingeschlafen.
    Nick fühlte sich jetzt leicht und schwerelos. Er hatte das merkwürdige Gefühl, leicht wie Luft zu sein und mit der Nacht und all dem lebendigen Grün vor dem Fenster zu verschmelzen. Als die schwache, geschwollene Arterie im Innern seines Herzes barst und Blut in seine Brust strömte, spürte er einen letzten, qualvollen Schmerz. Mit ein paar schnellen, flachen Atemzügen schloß er die Augen. Der Schmerz ließ nach. Ein Anflug von Lächeln schwebte auf seinen Lippen.
    Ein paar Sekunden vergingen, dann seufzte Nicholas Soames leise auf. Sein großes und edelmütiges Herz stockte und blieb stehen.

   65   
    A uf dem stillen Friedhof der Trinity Church übergab Reverend Walter Robbins Nicks Leib der Erde und seine Seele an Gott.
    Genauso wie sie in der Kirche gesessen hatte, stand Fiona, starr vor sich hin blickend, am Grab und nahm die Zeremonie kaum wahr. Für sie waren die Worte des Pfarrers ohne Bedeutung, sein Gebetbuch und das Kreuz bloße Requisiten. Nick war tot, und nichts, was er sagte, schenkte ihr Trost.
    Sie sah sich unter all den schicklich gekleideten Leuten um.

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