Die Teerose
kam zu Fiona herüber, nahm seine Mütze ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Mensch, heut abend ist vielleicht was los, Fee. Ich kann die Ware gar nicht schnell genug ranschaffen! Uns geh’n die Äpfel aus, bevor wir zumachen. Ich hab Vater gesagt, wir sollten mehr nehmen …«
»… aber er hat nicht auf dich gehört«, beendete Fiona seinen Satz und drückte ihm liebevoll die Hand. Das war eine altbekannte Klage. Joe drängte seinen Vater ständig, das Geschäft zu vergrößern, aber Mr. Bristow weigerte sich stets. Sie wußte, wie sehr es Joe ärgerte, daß sein Vater nie auf ihn hörte. »Zwölf und zwei …«, sagte sie und benutzte ihren Geheimcode – die gegenwärtige Geldsumme in ihrer Kakaodose –, um ihn aufzumuntern, »… denk einfach daran.«
»Das werd ich«, antwortete er und lächelte sie an. »Aber nach heut abend wird’s mehr sein. Ich muß noch ein bißchen Zaster aus den Leuten rausleiern. Sie lassen einen kaum Luft schnappen.« Er sah zu seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Jimmy hinüber, die von Kundschaft umlagert waren. »Ich muß zurück. Ich seh dich morgen nach dem Abendessen. Wirst du dasein?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Fiona hochnäsig. »Hängt ganz davon ab, ob meine andern Verehrer auftauchen.«
Joe verdrehte die Augen. »Ah ja. Zum Beispiel der Katzenfleischhändler«, sagte er und meinte den knorrigen alten Mann zwei Stände weiter unten, der Abfälle als Tierfutter verkaufte. »Oder war’s der Lumpensammler?«
»Der Lumpensammler ist mir jedenfalls lieber als ein nichtsnutziger Händler«, antwortete Fiona und versetzte Joes Stiefelspitze einen Stoß mit dem Fuß.
»Ich würd den Händler nehmen«, warf eine zirpende Mädchenstimme ein.
Fiona drehte sich um und unterdrückte ein Stöhnen. Es war Millie Peterson. Die verzogene, arrogante, von sich eingenommene Millie. So blond, so drall, so strahlend und auch noch so verdammt hübsch. Dieses kleine Miststück. Millies Vater Tommy war einer der größten Handelsherrn in London, mit Geschäften im East End und Covent Garden. Ein Selfmademan, der mit einem Verkaufskarren angefangen und es mit harter Arbeit und ein bißchen Glück bis zur Spitze geschafft hatte. Nach Aussage anderer Geschäftsleute gab es niemand Schlaueren als ihn. Geschäftstüchtig wie er war, verbrachte er die meiste Zeit auf den Straßen und bezog so sein Wissen aus erster Hand von seinen Abnehmern und deren Kunden.
Tommy war in Whitechapel aufgewachsen. Als frischgebackener Ehemann wohnte er in der Chicksand Street, nur eine Straße weit von der Montague Street entfernt. Als Kind hatte Milie mit Fiona und Joe und all den anderen Kindern in der Nachbarschaft gespielt. Doch sobald er etwas Geld verdient hatte, zog Peterson mit seiner Familie in eine bessere Gegend – ins vornehmere Pimlico. Kurz nach ihrem Umzug wurde Tommys Frau mit ihrem zweiten Kind schwanger. Sie starb im Kindbett und mit ihr das Neugeborene. Tommy war am Boden zerstört. Millie war alles, was ihm geblieben war, und wurde zum Mittelpunkt seines Lebens. Er überschüttete sie mit Liebe und Geschenken und versuchte, ihr die verlorene Mutter zu ersetzen. Was immer Millie wollte, bekam sie. Und seit sie ein kleines Mädchen war, wollte Millie Joe. Und obwohl Joe ihre Gefühle nicht erwiderte, ließ Millie nicht locker, entschlossen, eines Tages zu kriegen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Und das tat sie gewöhnlich auch.
Fiona Finnegan und Millie Peterson konnten sich nicht ausstehen, und wenn sie gekonnt hätte, hätte Fiona ihr schon gezeigt, wo’s langging. Aber sie stand am Stand der Bristows, und die Bristows kauften die meisten ihrer Waren bei Millies Vater, und gute Preise zu bekommen, hing zum größten Teil von guten Beziehungen ab. Sie wußte, daß sie sich benehmen und den Mund halten mußte. Zumindest mußte sie das versuchen.
»Hallo, Joe«, flötete Millie und schenkte ihm ihr süßestes Lächeln. »Hallo, Fiona«, setzte sie mit einem knappen Nicken hinzu. »Wohnst du immer noch in der Montague Street?«
»Nein, Millie«, antwortete Fiona mit ungerührter Miene. »Wir sind ins West End umgezogen. Ein hübsches kleines Haus namens Buckingham-Palast. Ein langer Fußweg jeden Morgen zu den Docks für mich und Pa, aber die Gegend ist doch um so vieles angenehmer.«
Millies Lächeln gefror. »Machst du dich lustig über mich?«
»Wie kommst du auf …«
»Na, Millie«, unterbrach Joe Fiona und warf ihr schnell einen Blick zu,
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