Gene sind kein Schicksal
Vorwort Das Geheimnis der Seenomaden
Meist sind es sechs bis zehn Holzboote, die am Horizont der Andamanensee auftauchen. Die Menschen an Bord sind schlank und haben dunkle Haare. Ihr gesamtes Leben spielt sich auf den Booten ab, sogar ihre Kinder kommen dort auf die Welt. Das Volk der Moken ist vor Jahrtausenden aufs Meer gezogen und gehört zu den letzten Seenomaden. Sie kreuzen über den Ozean und ernähren sich von Fischen und anderem Meeresgetier. Die Kinder schwimmen, noch bevor sie laufen können. Ihr Spielplatz sind die warmen Fluten. Muscheln und Seegurken klauben sie problemlos vom Meeresgrund. Denn wenn die kleinen Fischmenschen in ihrem Element sind, dann sehen sie scharf. Eine Taucherbrille brauchen sie nicht.
Dabei ist das menschliche Auge eigentlich für das Sehen an Land konzipiert. Die Lichtstrahlen aus der Luft werden durch die Linse und den Augapfel so gebrochen, dass auf der Netzhaut ein scharfes Bild entsteht. Unter Wasser funktioniert das nicht. Weil das Wasser fast die gleiche Dichte hat wie die Flüssigkeit im Innern des Auges, wird das eintreffende Licht kaum mehr gebrochen und nicht scharf auf die Netzhaut geworfen. Es entsteht ein verschwommenes Bild.
Das gilt für die meisten Menschen, aber nicht für die Kinder der Moken. Als die Biologin Anna Gislén in Schweden davon hörte, entschloss sie sich, das Geheimnis der Seenomaden zu lüften. Mit ihrer sechs Jahre alten Tochter flog sie von Kopenhagen ins thailändische Phuket, reiste im Bus weiter und fuhr mit einem Boot aufs azurblaue Meer hinaus. Nach vielen Stunden erreichten die beiden die Koh-Surin-Inseln, einen paradiesischen Archipel. Hier trafen sie auf einige Moken-Familien, die als Halbnomaden lebten: Wenn sie nicht draußen auf dem Meer waren, hielten sie sich in Bambushütten auf, die auf Stelzen am Strand standen.
Die Moken waren entzückt von dem blonden und blauäugigen Mädchen aus Schweden, das da mit seiner Mutter ankam. Wohl deshalb fassten sie Vertrauen und erlaubten zwei Jungen und vier Mädchen die Teilnahme an einem Sehtest in der See. Anna Gislén versenkte ein Gestell mit einer Kopfstütze im flachen Wasser und positionierte einen halben Meter entfernt Scheiben, die entweder waagerecht oder senkrecht gestreift waren. Auf ihren Tauchgängen legten die kleinen Seenomaden nun den Kopf auf das Gestell und verrieten der Schwedin anschließend, was sie gesehen hatten. Die Forscherin zeigte ihnen immer feinere Muster, bis die Kinder nichts mehr erkennen konnten. Auf diese Weise konnte sie die Sehschärfe bestimmen.
Als Vergleichspersonen rekrutierte Anna Gislén 28 Mädchen und Jungen aus Europa, die dort und auf den Nachbarinseln Urlaub machten. Die Touristenkinder waren zwar begeistert bei der Sache, starrten aber halb blind durch das Meerwasser. Die jungen Seenomaden konnten mehr als doppelt so scharf sehen und Muster im Bereich von 1 , 5 Millimetern erkennen. Der Unterschied lag an einer Besonderheit, die Anna Gislén erst mit einer Unterwasserkamera entdeckte. Die kleinen Europäer bekamen unter Wasser größere Pupillen ( 2 , 5 Millimeter im Durchmesser), weil das Licht schwächer wurde. Die Moken-Kinder dagegen zogen ihre Pupillen unter Wasser zusammen, so dass deren Durchmesser nur noch 1 , 96 Millimeter betrug, was anatomisch gar nicht möglich schien. Sie können ihre Linse zu einer kugeligen Form zusammendrücken. Wie bei einer Fotokamera mit kleinerer Blendeneinstellung verbessern sich dadurch Auflösung und Tiefenschärfe.
Diese Gabe schien biologisch verdrahtet zu sein, vermutete die Biologin. Weil die Seenomaden »Tausende von Jahren am und im Wasser gelebt haben, könnte die Evolution diejenigen begünstigt haben, die besser darin waren, unter Wasser zu akkomodieren«, notierte sie nach ihrer Rückkehr ins schwedische Lund. »Die Fähigkeit, unter Wasser gut sehen zu können, könnte zu einer genetischen Veranlagung geworden sein.« [1]
Anna Gislén veröffentlichte ihre Vermutung in einer Fachzeitschrift, doch irgendwie spürte sie: Das war noch nicht die ganze Geschichte. Sie entschied sich, das Unterwasser-Gucken mit vier schwedischen Mädchen zu üben, und zwar in einem Hallenbad im heimischen Lund. Während andere Kinder die Wasserrutsche hinuntersausten, absolvierten die Mädchen innerhalb von 33 Tagen elf Trainingseinheiten. Vier Monate später gab es noch ein Training, und nach vier weiteren Monaten, der schwedische Sommer war endlich da, gingen die vier Mädchen an einem strahlenden
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