Lesereise Schweiz
Der Berg ruft, und alle kommen
Feier am Eiger
Alles sieht idyllisch aus. Das Dorf auf tausend Meter Höhe ist von aufsteigenden Hügeln umgeben, die mit Gras wie mit Samt überzogen sind. Enzianblau der Himmel, auf den Wiesen Alpenrosen, Kühe grasen, und der Gletscherbach Lütschine sprudelt munter ins Tal. Schwarzverbrannte Alphöfe, Heuschober und Käsespycher betupfen die Kuppen.
Würde jetzt Heidi mit den Geißen ins Bild laufen, die Schweizer Idylle wäre perfekt. Doch der Ort heißt Grindelwald, und hinter den Anhöhen ragt eine steile Felsarena auf, senkrecht wie die UBS -Zentrale in Basel. Mystisch, riskant, dunkel. Denn die Sonne steht nie auf der Nordseite. Das ist kein Berg für gemütliches Wandern. Das sieht man auf den ersten Blick.
Seit Jahrhunderten zieht die dreitausendneunhundertsiebzig Meter hohe Eiger-Nordwand im Berner Oberland Menschen an. Viele Bergsteiger ließen dort ihr Leben. Als Erste schafften 1858 die Bergführer Christian Almer und Peter Bohren, zusammen mit dem Iren Charles Barrington den Eigergipfel. Hundertfünfzig Jahre später knackte die Seilschaft aus den Deutschen Anderl Heckmair und Ludwig Vörg sowie den Österreichern Heinrich Harrer und Fritz Kasparek den Mythos von der unbesteigbaren Eigernordwand. Am 24. Juli 1938 hatten sie das letzte ungelöste Problem der Alpen gemeistert und die achtzehnhundert Meter hohe Steilwand durchstiegen. Eine Tatsache, die in Grindelwald groß gefeiert wurde.
Die Zeit der großen Pioniertaten am Eigergletscher ist eigentlich vorbei. Karten weisen an die dreißig Routen aus. Doch der Mythos lockt, und der Schauder bleibt. Noch immer ist die Nordwand der Inbegriff eines senkrechten Berges. Dieser Fels aus brüchigem Kalkgestein bringt selbst erfahrene Alpinisten zum Schwitzen, und das trotz Funktionskleidung, Helm und moderner Meteorologie. Gleichwohl sind Forschung und Technik keine Rettungsanker. Berglaunen wie Steinschläge, Lawinen und Wettereinbrüche ziehen die Begeher weiterhin ins Verderben. Vor der Erstbegehung starben in der Nordwand an die sechzig Kletterer. »Mordwand« heißt sie deshalb immer noch.
»Heute nimmt man manche Wände in drei Stunden, wofür man damals drei Tage brauchte«, sagt Samuel Michel im Grindelwalder Heimatmuseum, das sich dem Berg und der Geschichte seiner Besteigung verschrieben hat. Der Museumschef zeigt die alten Nagelschuhe, Felshaken, Hanfseile und in Grindelwald hergestellte Bhend-Eispickel. Mit dieser rustikalen Pionierausstattung, sagt der Mann, der den Eiger selbst nur noch von unten bewundern will, wäre der im Jahr 2008 aufgestellte Rekord von zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten für die Achtzehnhundert-Meter-Wand undenkbar gewesen. Michels ganzer Stolz ist das Motorrad Heinrich Harrers. Die schwarze Puch, Baujahr 1932, jenes Motorrad, mit dem der Erstbesteiger am 21. Juli zur Nordwand gefahren ist. Zu den Besuchermagneten zählen aber auch die beiden Schwarz-weiß-Fotos von Yuko Maki, der 1921 zu den Erstbesteigern des Mittellegigrats am Eiger gehörte. »Die Fotos des Bergsteigers sind für Besucher aus Japan wie für uns Rom«, freut sich Michel. Die Japaner stürmen das kleine Museum gruppenweise, verbeugen sich mehrfach vor dem berühmten Landsmann, rufen Maki, Maki und verschwinden wieder.
Der Berg ruft, und alle kommen. Nicht nur zum Jubiläum. Grindelwald hat das ganze Jahr Saison. Das Gipfel-Trio aus Eiger, Mönch und Jungfrau ist ein Touristenrenner. Seit das Jungfraujoch mit dreitausendfünfhunderteinundsiebzig Metern als höchstgelegene Bergbahnstation Europas und »Top of Europe« vermarktet wird, fahren jährlich Hunderttausende der Jungfrau aufs Dach. Dank Bergidylle, Grusel-Aura und Yuko Maki hat Grindelwald in Asien einen festen Platz bei den obligatorischen Reisezielen gefunden. Zwanzig Prozent der Gäste stammen aus Japan, Vietnam und Korea. Die Jungfraubahn gehört zu den rentabelsten Strecken der Schweizer Bergbahnen.
Der Hochgebirgsbahnhof Kleine Scheidegg ist der Knoten zwischen Tal und Gipfel. Im Prospekt der Bergbahnen, der die Leser in Deutsch und Englisch, aber natürlich auch in Zeichenschrift informiert, steht, dass einander auf zweitausendeinundsechzig Höhenmetern Alphirten, Bergsteiger und Besucher aus aller Welt die Hände reichen. Genau genommen herrscht hier ein Rummel, der den Idyllenfreund erschrecken muss. Auf den völkerverbindenden Perrons helfen Bahnbeamte mit gleich bleibender Gelassenheit den herumirrenden Gästen zum rechten Gleis. Andere
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