Die Terranauten 056 - Die Drachenhexen
töten. Es war kein Problem, sein Herz mit einem telekinetischen Angriff zum Stillstand zu bringen, aber wahrscheinlich hatte die Seniorin des Belgam-Turms einen guten Grund, den Mann lebend zu fangen. Die telekinetischen Ströme, die Birtha aussandte, versetzten das die Waffe umklammernde Geröll langsam in Bewegung. Der Lauf des Lasers ruckte, dann erhob er sich in die Luft und schoß wie ein Pfeil nach oben. Der Mann in der Höhle schoß ins Blaue hinein, traf aber nichts. Offenbar hatte auch er keine Ahnung, was man mit ihm vorhatte.
Als Birtha die Waffe in der Hand hatte, nickte Simone. Er hätte auf das Magazin feuern und eine gewaltige Explosion erzeugen können, informierte sie die anderen. Nun haben wir freie Hand.
Mit einem Schenkeldruck setzte sie ihren Drachen in Bewegung. Lautlose Anweisungen huschten hin und her. Da es schwierig war, einen Menschen zu beeinflussen, den man nicht sehen konnte, würde es unerläßlich sein, sich dem Höhleneingang so weit wie möglich zu nähern. Simones Plan war nicht ungefährlich, aber es war anzunehmen, daß der Fremde von einem plötzlich auf sein Versteck zurasenden Drachenschwarm zumindest zeitweilig verunsichert werden würde. Diese Schrecksekunde mußten sie nutzen. Wer ihn zuerst sah, mußte alle Energien aufwenden, um eines seiner Organe zum Versagen zu bringen. Es genügte schon, seine Armmuskeln zu lähmen.
Der Schwarm nahm eine V-förmige Formation ein und konzentrierte sich auf Simones Zeichen. Der Startimpuls war nur kurz. Nayala kniff Sufnor sanft in den Hals, und der blaue Drache schoß wie von einem Granatwerfer abgefeuert los. In weniger als zehn Sekunden hatte er die sie von der Höhle trennende Entfernung überwunden und stieß im Chor mit den anderen ein urweltliches Brüllen aus. Die geballte Kraft von beinahe dreißig Drachenreitern tastete sich vor, bahnte sich einen Weg durch die Finsternis und erzeugte im Nervensystem des Unbekannten ein Trommelfeuer. Ein ersticktes Röcheln war alles, was Nayala wahrnahm. Dann prallte jemand von der linken Seite mit voller Wucht gegen sie. Ein Blitz zuckte auf. Ein vielstimmiger Schrei erzeugte in ihrem Kopf ein vollkommenes Chaos. Der Himmel verfärbte sich, das Unterste wurde nach oben gekehrt. Wenigstens haben wir ihn erwischt, dachte Nayala, dann wurde es dunkel um sie.
*
Als sie aufwachte, hatte sie das Gefühl, ihr Kopf müsse zerspringen. Sie lag in einem kleinen Raum auf einer Liege und fühlte sich so elend wie nie zuvor. Als ihre Rechte nach ihrem Kopf tastete, stellte sie fest, daß man sie verbunden hatte.
»Du hast ungeheures Glück gehabt«, sagte Birtha und nahm auf der Bettkante Platz. »Ewan – das ist der Mann, der im allgemeinen Durcheinander gegen dich prallte – hat den Unfall leider nicht überlebt.«
»Das … tut … mir … leid.« Jedes Wort bereitete ihr heftige Schmerzen. »Es war nicht deine Schuld«, sagte Birtha. »Aber die Belgam-Familie hat nun zwei Männer weniger. Und sie waren vorher schon ziemlich knapp.« Sie stand auf und öffnete das Fenster. Das hereinfallende Licht zeigte an, daß der Tag im Begriff war, sich seinem Ende zuzuneigen. »Der Mann, den wir gefangengenommen haben, scheint eine sehr wichtige Persönlichkeit zu sein. Simone und ein paar andere haben ihn inzwischen verhört. Wenn meine Informationen stimmen, gehört er zu den Leuten, die derzeit dabei sind, unsere Unabhängigkeit zu unterminieren.«
Dann haben wir also ein Druckmittel gegen sie in der Hand, dachte Nayala.
Birtha nickte. »Er wird uns, bis der Zentralrat eine Entscheidung gefällt hat, erst einmal als Geisel dienen.«
Und was ist mit den anderen Leuten? fragte Nayala, da ihr das Sprechen immer noch schwerfiel.
»Sie behaupten, mit diesem Mann nichts zu tun zu haben.« Birtha machte eine Pause. »Sie sind angeblich gekommen, um mit der Familie del Drago Kontakt aufzunehmen.«
»Was?« Nayala hob den Kopf und ignorierte die Schmerzen. »Aber das ist doch meine Familie!«
»Ich weiß«, sagte Birtha und maß sie mit einem prüfenden Blick. »Habt ihr nicht schon immer Verbindungen nach draußen gehabt?«
Nayala dachte an die legendäre La Strega und an Myriam. Beide hatten die Enklave vor langer Zeit verlassen. War es möglich, daß sie irgendwann über ihre Herkunft geredet hatten? Unmöglich! Wenn die Enklave auch heute im Sternenreich nicht mehr den gleichen Bekanntheitsgrad genoß wie vor zweihundert Jahren – jemand, der zugab, aus dem Versiegelten Land von Adzharis
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