Die Terranauten 056 - Die Drachenhexen
Fingerzeig gab Nell den anderen die Richtung an. Wenn alles glattging, würden sie den Turm in wenigen Minuten erreichen. Es war kaum anzunehmen, daß Helmer und Anjak in der gleichen Zeit die steile Felswand erklettern konnten. Vom Turm aus konnte man weitersehen. Wenn die Verfolger sich nicht abschütteln ließen, hatten sie keine andere Wahl, als ernsthaft deren Beseitigung ins Auge zu fassen.
Im Inneren des Waldes herrschte eine fast unheimliche Stille. Trockene Zweige brachen knackend unter den Füßen der Flüchtenden, als sie sich einen Weg durch das Dickicht bahnten. Mit dem gezückten Messer in der Hand – in dieser Umgebung war man besser auf alles vorbereitet – schritt Nell der Gruppe voran. Unaufhaltsam näherten sie sich der Lichtung, auf der sich der verfallene Turm befinden mußte.
Als sie dort ankamen, erwartete sie eine Überraschung, mit der niemand gerechnet hatte. Die Turmruine war wider Erwarten instand gesetzt worden und machte einen bewohnten Eindruck. Im gleichen Moment, in dem Nell erschreckt nach Luft schnappte, wurde auf der Turmspitze ein großer Schatten sichtbar, der dünne Schwingen ausbreitete. Ein Drache! Sie waren vom Regen in die Traufe gekommen.
*
Die am weitesten südlich lebende Familie trug den Namen Belgam. Nach zwei Tagen ununterbrochenen Flugs hatten Nayala del Drago und die vierundzwanzig Pheidolen, die mit ihr zusammen aufgebrochen waren, das waldreiche Land am Rand der Barriere endlich erreicht und waren auf der Turmspitze niedergegangen.
Mehrere Angehörige der Belgams erwarteten sie, denn natürlich war der Ankunft ein telepathischer Hinweis vorausgegangen, der das Erscheinen des Schwarms angekündigt hatte. Nayala hatte sich bemüht, den Gedankenimpuls so kurz und unverfänglich wie möglich zu gestalten, damit niemand, der möglicherweise aus irgendwelchen Gründen in diesem Gebiet unterwegs war, aus ihm mehr als die Ankündigung eines Familientreffens herauslesen konnte. Die Seniorin des Belgam-Turms hatte die Neuankömmlinge freundlich begrüßt und ihnen sofort eine stärkende Mahlzeit herrichten lassen. Verständlicherweise herrschte im Inneren des Turms eine Aufregung und Nervosität sondergleichen, denn es kam nicht alle Tage vor, daß man eine derart große und fremde Gruppe aus dem Norden bei sich zu Gast hatte. Über die allgemeine Entwicklung waren die Bewohner des Belgam-Turms inzwischen von dem örtlichen Patrouillenreiter informiert worden, aber das, was Nayala ihnen zu sagen hatte, schlug wie eine Bombe ein.
»Man hat also vor, das unserem Volk in der Enklave garantierte Lebensrecht wieder zu nehmen?« fragte die Seniorin, eine hagere Lobopelta namens Simone, nachdem die erschöpften Pheidolen sich zum Schlafen zurückgezogen hatten und sie mit Nayala und ein paar anderen im Geschäftsraum zurückgeblieben war. »Worauf hat man es abgesehen? Auf unsere Bodenschätze?«
Die Belgam-Familie bestand zum Hauptteil aus Bergarbeitern, die seit der Restauration ihres Turms eine nahegelegene Silbermine ausbeuteten.
Nayala schüttelte den Kopf. »Es geht keinesfalls nur um euer Reich, Simone«, sagte sie. »Auch wir anderen sind davon betroffen. Wenn unsere Informationen stimmen, steuert Barnum Seafood auf eine wirtschaftliche Krise zu. Wir wissen schon seit geraumer Zeit, daß die rüden Fangmethoden, mit denen die Gesellschaft das Meer ausplündert, dazu geführt haben, daß der Fischnachwuchs immer spärlicher wird. Barnum hat dermaßen teuflische Fangsysteme entwickelt, daß die Beute während der vergangenen Jahre immer größer wurde. Die Fische, die man aus dem Meer holt, werden immer jünger und werden gefangen, bevor sie zum ersten Mal gelaicht haben. Man hat dies mit Millionen Tonnen einer selbstentwickelten Aufbaunahrung auszugleichen versucht. Nun wachsen die Fische zwar schneller heran, aber sie weisen zunehmend Mißbildungen auf. Der Widerstand, den die angestellten und freien Fischer diesem Projekt entgegenbringen, wird bald zu Ausschreitungen führen. Es ist absehbar, wann die Gesellschaft aus dem Fanggeschäft aussteigen muß, und Barnum ist sich bereits darüber im klaren, daß man eine lange Pause wird einlegen müssen, um dem Fischbestand ein natürliches Heranwachsen zu ermöglichen. Unser Informant weiß aber, daß die Manags keine Lust haben, ein oder zwei Jahrzehnte auf die gewohnten Profite zu verzichten. Um während dieser Periode nicht leer auszugehen, haben sie folgenden Plan entwickelt: Sie wollen der Enklave ihren
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