Die Teufelsbibel
während sie um Gnade flehten, im Versuch davonzukriechen auf den Boden genagelt. Wo Andrejs Mutter in all der Panik war, ließ sich nicht erkennen. Andrej wusste nicht, dass er die Hände an die Ohren gepresst hatte und wie ein Wahnsinniger ihren Namen kreischte, seit er den ersten Mord mit angesehen hatte. Der große Schatten bewegte sich zwischen seinen Opfern wie ein riesiger, dunkler Wolf, verschwamm vor Andrejs Augen und wurde zu einer Gestalt mit Kutte und Sense, die erbarmungslos durch das menschliche Korn zwischen ihren Füßen schnitt, verlief wieder wie zu Beginn zu dem finsteren Schatten, der eine Beute an den Haaren gepackt hatte und niederrang, die Waffe erhob …
Jemand sprang dem Schatten auf den Rücken und drosch auf ihn ein. Er fasste nach hinten und zerrte den Angreifer herunter, warf ihn auf den Boden, hielt ihn mit dem Fuß fest, schlug mit seiner Waffe immer und immer wieder zu. Das Geräusch der Schläge, das Zerschmettern, das Zerbersten, das Röhren, die Schmerzensschreie. Andrejs Hände auf seinen Ohren nützten gar nichts.
Mit einem weiten Schwung fuhr die Waffe nach oben – Andrej glaubte die Spur wie einen rot schimmernden Bogen durch das Geflimmer zu sehen – und zuckte auf die erste Beute herab, die der Schatten niemals losgelassen hatte und deren Schreien und Winden vergeblich waren …
Andrej merkte erst, dass er aus seinem Versteck geklettert war und vor der Mauer im Freien stand, als die Graupel ihn wie tausend Nadelstiche im Gesicht trafen. Er schrie mit seiner grellen Jungenstimme und weinte und ballte die Fäuste, dass das Blut aus den Handflächen trat. Der mörderische Schatten vorne wirbelte herum. Außer ihm stand kein anderer mehr aufrecht auf dem Schlachtfeld. Er riss seine Waffe aus dem Körper des letzten Opfers und rannte, ohne zu zögern, auf Andrej los. Wenn er sein tierisches Brüllen weiterhin ausstieß, konnte Andrej es wegen seines eigenen Kreischens nicht hören. Andrej stand da, als hätte der Akt des Herauskrabbelns aus seinem Versteck endgültig all seine Kräfte gekostet. Der Schatten stürmte durch den Schauer, und mit jedem Schritt schmolz er zusammen und verwandelte sich von einem amorphen Monster in einen Menschen mit wehender Kutte und von einem Menschen in einen Mönch … die vermeintliche Sense wurde zu einer Axt … die riesige Gestalt zu einer hageren Figur, um deren Körper die von Blut durchnässte und von den Eispartikeln verkrustete Kutte schlotterte. Der Sensenmann wurde zu einem jungen Klosterbruder, der der Sohn einiger der Frauen hätte sein können, die er soeben zerstückelt hatte. Andrejs Blicke fielen auf das Gesicht des heranstürmenden Mönchs, und mit der Weitsicht des Todgeweihten erkannte er, dass es zwar der Körper eines jungen Benediktiners war, den er ansah, aber dass die Seele, die sich darin befunden hatte, nicht mehr vorhanden war. Was in dem Körper steckte und ihn vorantrieb, war ein Dämon, und der Dämon hieß Wahnsinn.
Der Mönch war fast heran, eine blutbesudelte Figur, ausderen Mund Geifer spritzte und aus deren Augen Tränen liefen; die Axt war hoch erhoben. Andrej wusste, dass er im nächsten Moment sterben würde. Seine Blase entleerte sich. Er schloss die Augen und ergab sich.
2
»Wir machen es wie immer«, hatte Andrejs Vater am Vorabend in der Herberge gesagt. »Ich gehe vor und rede mit den Mönchen. Ich bin sicher, dass ich sie bequatschen kann, mich in die Bibliothek zu führen. Wenn ich den Codex finde, schnappe ich ihn mir; wenn ich an seiner Stelle was anderes finde und wir es zu Geld machen können, schnappe ich es mir auch. Dann renne ich raus und stoße draußen mit deiner Mutter zusammen. Sie wird so tun, als versteckte sie was. Währenddessen – was passiert währenddessen, mein Junge?«
»Sie rennen an meinem Versteck vorbei und werfen mir die Beute zu«, leierte Andrej herunter. »Dann laufen Sie zum Tor hinaus und tun so, als würden Sie hinfallen. Während die Leute Sie und die Frau Mutter durchsuchen und nichts finden, schleiche ich mich mit der Beute zu unserem Quartier.«
»Der Kleine ist ein Naturtalent.« Andrejs Vater strahlte.
»Du bringst deinem eigenen Kind das Stehlen bei«, sagte Andrejs Mutter. »Stehlen ist eine Sünde und hat nichts mit der Wissenschaft zu tun.«
»Dass man Forscher wie unsereinen zwingt zu stehlen, um an das Wissen zu kommen, das man braucht – das ist eine Sünde!«, erwiderte Andrejs Vater. »Wenn man ein Unrecht mit einem anderen vergilt,
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