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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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    Ein Kind kreischte, eine Frau schrie in höchsten Tönen, die Zimmerdecke über meinem Bett knarrte unter Leuten. Dabei war es stockfinster draußen. Mein Wecker zeigte kurz nach sechs.
    Stach da oben gerade der Vater seine Familie ab? Und das in meinem Mietshaus! Der körpereigene Adrenali n alarm wuppte mich aus dem Bett und trieb mich in Jeans und Pullover, ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte. Cipión stand auch schon an der Wohnungstür mit steil aufgestellter Rute. Zum Bellen konnte er sich auch jetzt nicht entschließen. Der Rauhaardackel hatte, seit ich ihn aus einer Höhle gerettet hatte, noch nie gebellt. Erst hatte ich gedacht, er sei traumatisiert, inzwischen war ich zu dem Schluss gekommen, dass er es für sinnlos hielt, Krach zu machen. Wir verstanden ohnehin nie, was er uns damit sagen wollte.
    Ich warf mir den Parka über, nahm den Schlüssel vom Haken und öffnete die Tür. Cipión trabte hinaus. Das hölzerne Treppenhaus war dezembernachtkalt. Und es roch nach Stressschweiß. Hier waren Leute mit aggress i ven Absichten in den vierten Stock gestiegen. Ich zitterte plötzlich. Nicht vor Kälte. Denn knapp unterhalb meines bundesrepublikanischen Vertrauens in die Rechtsstaa t lichkeit polizeilicher Maßnahmen staute sich das viel ä l tere Menschheitswissen von staatlicher Willkür und nächtlichen Abtransporten in Folterlager.
    Ich nahm zwei Stufen auf einmal. Auf halbem Weg verlosch das Treppenhauslicht. Die W o hnungstür ein Stockwerk höher stand halb offen. Lampenlicht fiel auf den Treppenabsatz. Das Holz war, weil weniger Me n schen in den vierten Stock stiegen, glatter als in den unt e ren Bereichen. Ich glaube, ich war noch nie hier oben gewesen. Und nur einmal hatte ich unten im Hausei n gang die Frau getroffen, die mit ihren beiden Kindern seit e i nem halben Jahr über mir lebte und den Briefkasten mit dem Namensschild »Habergeiß« leerte. Sie war b e brillt und dick.
    Die Tochter zählte schätzungsweise dreizehn Jahre, der Bub fünf oder sechs.
    Er schrie tief drin in der Wohnung. »Ich will nicht mit! Ich will nicht!«
    Ich stieß die Tür auf, genau in den Rücken einer Frau im Wintermantel. Die Wohnung hatte anders als meine einen Flur. An dessen Ende stand gestikulierend die Tochter und redete auf eine Person ein, die ich nicht s e hen konnte. Cipión dackelte unerschrocken hinein. Die Frau im Flur fuhr herum.
    »Was ist hier los?«, fragte ich im Polizeiton.
    Die Tochter sah mich – ob sie mich auch erkannte, weiß ich nicht – und schrie: »Die wollen Tobi mitne h men!«
    Hinter der Ecke am Ende des Flurs trat eine weitere Frau hervor. Sie war eine von denen, die ihre grauen Haare nicht färbten und naturtrübe Kleidung biologischer Weltanschauung trugen, was sie als bewusst und sozial verantwortungsbewusst lebende Gutmenschen auswies. Unter dem Mantel leuchtete ein möhrenfarbenes Wol l kleid.
    »Wir sind vom Jugendamt«, erklärte sie. »Gehen Sie bitte und lassen Sie uns unsere Arbeit machen.«
    »Und ich bin von der Presse.« Ich zog meinen g e werkschaftlichen Presseausweis aus dem Parka und hielt ihn hoch. »Schwabenreporterin Lisa Nerz. Ich wohne ein Stockwerk tiefer. Und ich bin eine aufmerksame Bürg e rin, die sich nicht im Bett umdreht, wenn im Haus ein Kind schreit, als würde es abgestochen.«
    Das musste die Dame vom Jugendamt gutheißen, auch wenn der Zeitpunkt gerade ungünstig war.
    »Können Sie sich auch ausweisen?«, fragte ich.
    »Ja, genau!«, schrie die halbwüchsige Tochter. »Sie haben sich gar nicht ausgewiesen.«
    »Doch, das haben wir«, antwortete die Grauhaarige im Möhrenkleid betont leise. »Außerdem kennst du mich, Katarina.«
    Jetzt erschien in einer Tür die Mutter. Der Morge n mantel hing schief, das Gesicht war grau, das Haar hing wie welker Schnittlauch vom Kopf, die Brille hatte Schlagseite.
    »Bitte gehen Sie wieder auf Ihr Zimmer, Frau Habe r geiß«, sagte die Grauhaarige streng.
    »Na hören Sie mal!«, entfuhr es mir. »Das ist ihre Wohnung!«
    »Und Sie verlassen diese Wohnung jetzt auch!«
    Eine dritte Frau erschien, aus dem Kinderzimmer he r vorgezerrt durch den Jungen, den sie am Handgelenk gepackt hielt, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Vor lauter Protest und Gegenwehr hatte Tobi sich den Schla f anzug fast ausgezogen und einmal um den Leib gew i ckelt. Er zerrte an der Hand der Frau zu seiner Schwester, doch die Frau zog ihn so heftig zurück, dass er den Boden u n ter den Füßen verlor. Er war so

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