Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
Minuten.«
4. Kapitel
V iktor ging zum Kamin, auf dessen Sims eine alte Teekanne aus Meißener Porzellan auf einem Stövchen stand. Als er sah, wie aufmerksam sie ihn beobachtete, gab er sich einen Ruck und zwang sich, seine guten Manieren nicht zu vergessen.
»Möchten Sie auch etwas Tee? Ich war gerade dabei, neuen aufzusetzen.«
Die Frau schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein, danke. Ich will nicht, dass das von meiner Zeit abgeht.«
»Na gut, dann legen Sie wenigstens Ihren Mantel ab und nehmen Sie Platz.«
Er räumte einen Stapel alter Zeitungen von dem Ledersessel, der zu der alten Couchgarnitur gehörte. Sein Vater hatte sie vor Jahren schon so aufgestellt, dass man gleichzeitig einen Blick auf das Kaminfeuer und durch das Fenster hindurch auf das Meer werfen konnte, sobald man es sich darauf mit einem guten Buch gemütlich machte.
Viktor nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz und musterte die schöne Fremde, während sie sich setzte, ohne vorher ihren Cashmere-Mantel ausgezogen zu haben.
Für einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen, und man konnte hören, wie sich eine große Welle am Strand brach, um sich gleich darauf wieder zischend zurückzuziehen.
Viktor sah erneut auf seine Uhr.
»Nun gut, Frau … ähm … wie heißen Sie eigentlich?«
»Mein Name ist Anna Spiegel, ich bin Schriftstellerin.«
»Müsste ich Sie kennen?«
»Nur wenn Sie zwischen sechs und dreizehn Jahre alt wären und gerne Kinderbücher läsen. Haben Sie Kinder?«
»Ja. Das heißt …« Der Schmerz kam kurz und heftig. So wie seine Antwort. Er sah ihren suchenden Blick nach Familienfotos auf dem Kaminsims und stellte schnell eine Gegenfrage, um keine Erklärungen abgeben zu müssen.
Sie hat seit Jahren keine Zeitung gelesen.
»Sie sprechen Hochdeutsch ohne Dialekt. Woher kommen Sie?«
»Aus Berlin. Waschecht, wenn man so will. Meine Bücher sind allerdings vorwiegend im Ausland erfolgreich, vor allen Dingen in Japan. Aber mittlerweile auch das nicht mehr.«
»Warum?«
»Weil ich seit Jahren kein einziges Buch mehr herausgebracht habe.«
Viktor hatte gar nicht gemerkt, dass aus ihrer Unterhaltung bereits das typische Frage-Antwort-Spiel geworden war, nach dessen Muster früher die meisten Unterredungen zwischen ihm und seinen Patienten abgelaufen waren.
»Wie lange haben Sie nichts mehr veröffentlicht?«
»Fünf Jahre etwa. Mein letztes Werk war wieder ein Kinderbuch. Ich dachte, es würde mein bisher bestes werden. Ich spürte es mit jeder Zeile, die ich schrieb. Doch dann kam ich nie über die ersten zwei Kapitel hinaus.«
»Warum?«
»Weil sich mein Gesundheitszustand plötzlich drastisch verschlechterte. Ich musste ins Krankenhaus.«
»Weswegen?«
»Ich glaube, das wissen die in der Parkklinik bis heute noch nicht.«
»Sie waren in der Parkklinik? In Dahlem?« Viktor sah sie erstaunt an. Mit dieser Wendung des Gesprächs hatte er nicht gerechnet. Zum einen wusste er jetzt, dass sie tatsächlich eine sehr vermögende Autorin sein musste, wenn sie sich den teuren Aufenthalt dort leisten konnte. Zum anderen musste sie wirklich gravierende Probleme haben, denn die exklusive Privatklinik war nicht auf die üblichen Prominentenprobleme wie Alkoholsucht und Drogenabhängigkeit spezialisiert, sondern auf schwerste psychische Störungen. Er selbst war vor seinem Zusammenbruch früher mehrfach als außenstehender Experte zu Rate gezogen worden und konnte den hervorragenden Ruf dieser Einrichtung bestätigen. Mit dem Aufgebot der bedeutendsten Fachkräfte des Landes und den neuesten Behandlungsmethoden hatte die Berliner Privatklinik in vielen Fällen bahnbrechende Ergebnisse erzielt. Allerdings war ihm noch kein einziger Patient persönlich begegnet, der das Hospital in einem derart wachen Geisteszustand wieder verlassen hatte wie Anna Spiegel, die jetzt gerade bei ihm in seinem Strandhaus saß.
»Wie lange waren Sie dort?«
»Siebenundvierzig Monate.«
Jetzt verschlug es Viktor endgültig die Sprache. So lange? Entweder sie log, dass sich die Balken bogen, oder sie war wirklich ernsthaft krank. Wahrscheinlich sogar beides.
»Sie haben mich fast vier Jahre in einem Raum eingesperrt und so lange mit Pillen voll gestopft, dass ich zwischenzeitlich weder wusste, wer ich bin, noch, wo ich war.«
»Was war die Diagnose?«
»Ihr Spezialgebiet, Dr. Larenz. Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen. Ich leide unter Schizophrenie.«
Viktor hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und hörte ihr aufmerksam zu.
Weitere Kostenlose Bücher