Die Tibeterin
ihre Augen ganz deutlich: sie waren groß und haselnußbraun; mein Antlitz spiegelte sich in ihren Pupillen. Als wäre auch ich nur das Scheinbild, daß sie, die Träumerin, sah.
9
»Chodonla!«
Mein Herz schlug bis zum Hals. Was hatte sie gesagt? War ich wach? Und was war das für ein Geräusch? Da – schon wieder! Der Regen prasselte gegen die Balkontür. Ich stand auf, spähte durch die nassen Scheiben. Ein Blumentopf war umgefallen; der Wind rollte ihn über den Balkon. Ich drückte den Griff herunter; die Tür flog auf.
Barfuß trat ich in die windgepeitschte Nacht. Der Regen fegte um die Ecken und über die Straße, hart wie der Wasserstrahl aus einem Feuerwehrschlauch. Ich hob den Blumentopf mit der kleinen Narzisse auf; der Rand war bereits zersprungen. Ich stellte die Pflanze in eine geschützte Ecke, bevor ich keuchend und durchnäßt die Balkontür schloß, in die Küche ging und Licht machte. Ich goß Milch in einen Topf und zündete die Gasflamme an. Als die Milch kurz vor dem Kochen war, füllte ich sie in ein Glas. Heiße Milch beruhigt, sagte Amla – meine Mutter. Sie hatte immer ein Rezept für jede Lebenslage, hielt ihre Ansichten für hieb- und stichfest, und meistens stimmten sie tatsächlich. So auch diesmal. Ich trank einen großen Schluck. Das Herzklopfen ließ nach, meine Muskeln entspannten sich. Nach einer Weile ging ich ins Schlafzimmer zurück. Ich öffnete leise eine Schublade, entnahm ihr ein Kästchen aus Sandelholz, made in India und kitschig. Roman wälzte sich auf die Seite, wurde aber nicht wach. Ich ging mit dem Kästchen in die Küche, setzte mich und ließ den Deckel aufspringen. Zwischen zerknitterten Luftpost-Umschlägen und alten Briefmarken lag Onkel Thubtens Brief an meine Mutter.
Eine Woche zuvor hatte sie Möbel umgestellt, Schränke ausgeräumt und in Schubladen gewühlt. Von Zeit zu Zeit überkam sie die Ordnungswut, dann warf sie Dinge weg, die sie jahrelang behalten hatte. Man mußte sie machen lassen. Ich half ihr beim Sortieren, um zu vermeiden, daß wichtige Post im Papierkorb landete. Als wir alte Unterlagen durchstöberten, kam der Brief zum Vorschein, und Amla sagte:
»Du kannst ihn haben.«
In meinem Leben existierte dieser Brief nicht mehr. Von dem Inhalt hatte ich mich distanziert. Es war ein wohlüberlegter Entschluß gewesen, damals, ein Akt der Feigheit. Und helfen konnte ich ja doch nicht.
Ich steckte den Brief in meine Handtasche und abends in die Schublade zu den anderen Briefen. Womit ich das Problem aus der Welt schaffen wollte. Aber das Problem verschwand nicht in der 10
Schublade, sondern verharrte in meinem Kopf.
Ich trank das Glas aus, wischte mir mit dem Handrücken über die Lippen. Na schön, sehen wir uns die Sache mal an. Der Brief hatte etwas in mir ausgelöst, merkwürdige Ideenverbindungen geweckt.
Chodonla war wieder ganz nahe - näher, als mir lieb war. Ich befand mich in einem Zustand, der mir nicht gefiel, beobachtete meine Reaktionen, sezierte sie wie mit dem Skalpell. Irgendwann kam mir eine Geschichte von früher in den Sinn, eine volkstümliche Legende aus einer verlorenen Welt. Der tibetische Volksglauben weiß: Die Seelen der Frauen, die im Zorn gestorben sind, verwandeln sich in kleine Dämonen. Sie werden Dumo genannt, oder auch Khandoma –
Engel – wenn man sich mit einer Fürbitte an sie wendet. Ihre kleinen Statuen, maskiert und mit ihrem persönlichen Schmuck behängt, werden im Kloster Sakya, unweit der Stadt Shigatse, in einem Tempel aufbewahrt. Ein Lama hat die Aufgabe, Gebete für sie zu sprechen. Wer es sich zutraut, kann die Maske einer Dumo in einer Schatulle an sich nehmen. Sie wird durch kleine Brandopfer freundlich gestimmt und ist ein wirksamer Schutzgeist, besonders auf Reisen. Es kommt aber vor, daß eine Dumo entflieht, durch die Straßen irrt und in die Häuser eindringt. Beim ersten Hahnenschrei verschwindet sie. Aber wer durch das Erscheinen einer Dumo geweckt wird, erlebt bald den Tod eines nahen Familienangehörigen.
Legenden dieser Art kannte ich viele. Amla konnte gut erzählen; als kleines Mädchen standen mir dabei die Haare zu Berge. Trotz meiner sachlichen Natur erweckten diese Geschichten in mir den tiefen, fast körperlichen Eindruck eines Geheimnisses, das irgendwie allgegenwärtig war, auch in dieser prosaischen Schweiz, in der ich aufwuchs. Sie gehörten zu jener Melodie der Kindheit, die nur einmal im Leben erklingt. Ich bedauerte es nie, aus einem so fernen Land wie Tibet zu
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