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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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wirbelten vor den Augen des Jungen, und plötzlich war ihm, als nehme der Nebelfrost Form an. Eine Figur bildete sich in der Dunkelheit, festigte sich zusehends, nahm die Gestalt eines Riesen an. Ein Tier mit Menschengesicht schimmerte durch den Nebel. Unter dem vereisten, zottigen Haarwulst blickte das Antlitz aufmerksam und kummervoll.
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    Die langen messerscharfen Hörner glänzten. Ein trockenes Schluchzen entfuhr dem Jungen. Er legte zwei Finger an die Lippen und pfiff. Lang anhaltend und schrill, der Stimme eines Vogels ähnlich, schwang sich der Pfiff in den Himmel, kreiste über den schwarzen Felsen. Dann – plötzliche Stille. Der Pfiff verstummte.
    Nichts war mehr zu hören als der Atem der Tiere und weiter unten am Berghang das Stapfen eiliger, strauchelnder Schritte. Der Riese rührte sich nicht – eine ganze Weile lang. Seine schwarzen Augen spähten starr in die Richtung, aus welcher der Pfeifton gekommen war. Unvermittelt erschütterte ein Brummen den gewaltigen Tierleib.
    Umweht von seiner Mähne, den Kopf zum Angriff gesenkt, setzte sich der Riese in Bewegung. Die Hörner funkelten wie Säbel. Der Junge sah ihn kommen; sein Atem flog, doch seine Füße standen fest, und er wich nicht von der Stelle. Nun spielte sich alles mit schwindelerregender Schnelligkeit ab. Das Ungeheuer raste so nahe an dem Jungen vorbei, daß die schneeverkrustete Mähne sein Gesicht peitschte, und der Luftwirbel ihm das Gleichgewicht nahm.
    Er stolperte, fiel rücklings in ein Gestrüpp, rutschte abwärts, krallte sich an den Zweigen fest. Der Riese stürmte den Hang hinunter. Wie unterirdische Geistertrommeln erschütterten seine Hufe den Boden.
    Der Junge lauschte, atmete flach. Ein paar Sekunden vergingen. Ein Schuß krachte. Noch einer. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Und auf einmal – ein Schrei! Das Brüllen eines Mannes in Todesnot. Das gespenstische Geheul flog durch die Dunkelheit, getragen vom Donnern der Hufe. Und entfernte sich in weiten Kreisen, fortgeweht im Sturm, unter einem Meer von Nebel. Da hob der Junge beide Arme, wie ein Sieger, schrie seinen Triumph in die Nacht hinaus.
    Und dann fiel er auf die Knie, von heftigem Schluckauf geschüttelt, erbrach sich fast das Herz aus dem Leib. Aber nur Spucke und bittere Gallenflüssigkeit tropften aus seinem Mund auf die eiskalte Erde.
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1. Kapitel

    I ch erwachte in plötzlicher Angst. Ich konnte den Wind hören und das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben. Wir waren spät zu Bett gegangen. Ich sah auf die Uhr. Halb zwei. Ich war mit Kopfschmerzen eingeschlafen und hatte von Chodonla geträumt.
    Meiner Erinnerung nach war Chodonla in früheren Träumen als Kinder vorgekommen: eine schmalgliedrige Fünfjährige, mit einem zu großen Kopf und gerade geschnittenen Stirnfransen. Die Wangen waren aprikosenfarben, die Augen schwarzblau, und über dem linken Mundwinkel befand sich ein Muttermal. Ich hatte auch eines, an der gleichen Stelle, nur kleiner. Wir waren als Zwillinge auf die Welt gekommen – Chodonla ein paar Minuten früher als ich. Mutter erzählte, daß wir als Kinder kaum zu unterscheiden waren. Sie ließ uns Kleider nach demselben Schnitt und in der gleichen Farbe anfertigen; es machte ihr Spaß, wenn man uns verwechselte.
    Mein Herz klopfte stark. Warum nur? Ich fühlte in mir eine Welle undefinierbarer Erregung. Der Regen schlug an die Fenster; schon am Abend war der Himmel bewölkt gewesen. Roman lag dicht neben mir, atmete tief, etwas röchelnd. Seine Redaktion war in Basel, wir sahen uns nur am Wochenende. An diesem Abend waren wir im Kino gewesen, hatten anschließend gegessen, zu spät und zu viel. Gebratene Leber mit Zwiebeln, zum Schluß ein Stück Nußtorte.
    Der Wein war nicht gut gewesen. Das mochte der Grund sein, weshalb ich unruhig schlief und von Chodonla träumte. Und zum ersten Mal sah ich sie nicht als Kind, sondern als Frau, abgemagert und nicht mehr jung. Ja, das ist Chodonla, sagte ich mir im Traum.
    Ihr Gesicht, von eigentümlicher Schönheit, leuchtete wie Porzellan; über den Lippen lag das Muttermal als ein schwarzblauer Tupfer. Ich suchte nach den Augen; ich konnte sie mir zwar vorstellen, sah sie jedoch nicht. Ihr Mund, blutrot wie eine Wunde, öffnete und schloß sich wieder: Sie sprach einen langen, komplizierten Satz. Mit meiner ganzen Aufmerksamkeit versuchte ich ihn zu verstehen.
    »Was sagst du, Chodonla?«
    Sie stand vor meinem Bett, hielt die Hände verschlungen. Ihr Gesicht kam näher, und nun sah ich

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