Seit jenem Tag
Kapitel 1
Dienstags rechnet man eher nicht mit Ereignissen, die dein ganzes Leben verändern. Freitage oder Samstage bieten sich doch viel besser an, mit erfreulichen Überraschungen alles in hellem Licht erstrahlen zu lassen.
An diesem besonderen Dienstag warte ich mit scharrenden Füßen darauf, dass der Tag zu Ende geht, und lasse meine Augen zwischen der Uhr, meinem Bildschirm und meiner völlig bescheuerten, furchteinflößenden Chefin Mary hin und her wandern. Es ist eine riesige Wanduhr im Retrolook, mit dicken schwarzen Zeigern, die sich momentan im Schneckentempo auf 18 Uhr zubewegen. Die Wand dahinter ist mit pastellfarbenen rosa Rosen tapeziert, und im Raum stehen große Plüschsofas verstreut, die zu spontanen Geistesblitzen und vertraulichen Gesprächen animieren sollen, zu denen es allerdings so gut wie nie kommt. Mary beherrscht hinter ihrem gewaltigen Glasschreibtisch den Raum. Sie ist die Tonangebende, diejenige, die über alles den Überblick behält, aber mit Vorsicht zu genießen ist. Der Schein dieser inspirierenden Atmosphäre in unserer Werbeagentur trügt also, denn die Stimmung in unserem Team ist meistens gereizt.
Ich sitze an einer Kampagne für Biolebensmittel im Supermarkt, aber auch wenn mein Computer noch nicht ausgeschaltet ist, mein Gehirn ist es definitiv. Ich möchte nach Hause – bevor ich wieder losmuss, koche ich für James noch ein Abendessen –, aber ich möchte nicht, dass Mary mich für einen Drückeberger hält. Da spiele ich doch lieber noch eine halbe Stunde am selben Satz herum, um nicht halbherzig bei der Sache zu wirken.
Meinem optimistisch sogenannten »Assistenten« Mungo sind derartige Gewissensbisse fremd. Er wurde dank Mary, seiner Patentante, als Praktikant eingestellt und ist bei uns hängen geblieben. Im Moment ist er schon halb durch die Tür, schiebt ein verstaubtes altes Buch in seine lederne Umhängetasche und schaltet seinen Monitor aus, ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen. Ich trinke laut schlürfend einen Schluck Wasser, aber dies bekommt er ebenso wenig mit wie jede Aufforderung oder Bitte, die ich an ihn richte: Er hört nicht auf mich, die einzigen Autoritäten, die dieser Junge sich vielleicht bemüßigt sähe zu respektieren, wären Martin Amis oder Salman Rushdie, beides Absolventen einer Eliteuni wie er. Er stylt sich, als wäre er die literarische Neuentdeckung des Jahres, trägt nur lange Schals und Cordjacken, auf die seine glänzenden kastanienbraunen Haare wie üppige Samtvorhänge fallen.
»Mungo«, rufe ich ihm zu, »bevor Sie gehen, wie weit sind Sie denn mit Ihrer Recherche zur Höhe der Verbraucherausgaben?«
Einen kurzen Moment lang scheint er in Panik zu geraten, aber dann fällt ihm wieder ein, dass nur ich es bin.
»Das ist alles unter Kontrolle«, erwidert er schlagfertig.
»Sie müssen mir schon sagen, wann ich damit rechnen kann«, blaffe ich, bevor ich den Mut verliere. »Oder wenigstens, wann ungefähr«, ergänze ich lahm.
»Spätestens morgen«, versichert er mir im Hinausgehen, »darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«
Dass ihm das mehr oder weniger egal ist, überrascht mich eigentlich nicht. Er hat seinen Praktikantenstatus beibehalten und bekommt außer den nie enden wollenden großzügigen Finanzspritzen von Mama und Papa kein Geld, was ja heutzutage so gut wie die einzige Möglichkeit ist, einen Job zu bekommen. Ich kann von Glück sagen, dass ich vor mehr als zehn Jahren ins Berufsleben eingestiegen bin, denn mein Dad mit seiner fast schon übertriebenen Sparsamkeit und seinen Prinzipien hätte mich höchstens drei Tage lang unterstützt. Ich kam voller Begeisterung frisch vom Studium als Auszubildende in diesen Laden und war wie die meisten Young Professionals versessen darauf dazuzugehören, aber schon bald folgte die Ernüchterung. Bis dahin hatten harte Arbeit und Fleiß mich durchs Leben gebracht. Meinen Einserabschluss hatte ich mit links gemacht und mich nicht gerade überanstrengt, als ich die Volontariatsstelle bekam. Das Collegeleben mit den Multiple-Choice-Prüfungen fiel mir leicht, die Praxis hingegen, der teilweise schwierige Umgang mit anderen Menschen, bereitete mir Probleme.
Schon sehr schnell entdeckte ich, dass man, um Erfolg da draußen zu haben, sich selbst verkaufen musste. Ich-Marketing hieß das Stichwort. Und natürlich war es ein ungeschriebenes Gesetz, das richtige Handtaschenmodell zu haben. Zum Glück erkannte Mary mein Potenzial und hakte mich nicht als den
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