Die Time Catcher
äußerst vorsichtig sein, denn die Wachen stehen direkt unter mir. Schon beim leisesten Niesen würden sie bestimmt auf mich aufmerksam werden. Und obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass die uralten Bajonette auch wirklich funktionieren, will ich mein Schicksal nicht herausfordern.
Noch eine schlängelnde Bewegung und ich bin am Ziel.
Ich halte meinen rechten Zeigefinger in die Luft. Der Anzeige unter meinem Fingernagel entnehme ich, dass es 19 Uhr 38 ist, Ortszeit. Ups, schon so spät!
Ich strecke meine rechte Hand aus, lege meine Fingerspitzen an die Fahne, schließe die Augen und versinke in einem tranceartigen Zustand. Meine Finger prüfen die Beschaffenheit des Materials und vergleichen sie mit den Eigenschaften der Originalfahne der Großen Freundschaft, die gemeinsam mit den Auftragsdaten übermittelt wurden.
Im nächsten Moment erhalte ich das Ergebnis und stoße einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus: Die Fahne ist echt – kein Duplikat.
Man weiß nie genau, was man eigentlich stiehlt, bis man das Diebesgut gescannt hat.
Schließlich ist die ganze Welt voller Gauner – nicht alle von ihnen sind Zeitreisende –, und so wäre es durchaus möglich, dass mir ein anderer die Fahne vor der Nase weggeschnappt und gegen eine Nachbildung ausgetauscht hat.
Ich möchte unter allen Umständen vermeiden, ein Duplikat ins Hauptquartier zu bringen. Dann wäre die Mission definitiv gescheitert.
Aber jetzt werde ich selbst eine Replik einsetzen. Onkel ist sehr daran gelegen, dass wir kein Aufsehen erregen, und die beste Art, dies zu erreichen, besteht darin, dass der Catch von niemandem bemerkt wird.
Und so ziehe ich in diesem Moment ein perfektes Abbild der Fahne aus meinem Rucksack. Onkels Assistent, Nassim, hat es mir vor meiner Abreise gegeben.
Diesen Teil meines Jobs liebe ich wirklich. Nichts ist besser als der gewaltige Adrenalinschub, der unmittelbar vor einem Raub durch meinen Körper hindurchgeht. Je gefährlicher der Auftrag, desto intensiver der Nervenkitzel.
Ich lege das Duplikat hin und untersuche die beiden Karabinerhaken, die die Fahne an ihrem Platz halten. Ich versuche, sie zu lösen, aber das ist unmöglich. Ich muss die Schnur durchschneiden.
Ich ziehe ein Messer aus meiner Hosentasche. Dies ist der heikle Teil. Onkels Auftraggeber sind sehr pingelig, und falls das Material nur ein klein wenig beschädigt ist, werden sie garantiert ihr Geld zurückhaben wollen.
Ich halte das Messer schräg und beginne zu schneiden. Es geht langsamer, als mir lieb ist, vor allem weil die Schnur ziemlich dick und mein Messer stumpf ist. Ich atme tief durch und mache weiter.
Doch plötzlich sehe ich etwas, das mich abrupt innehalten lässt. Es ist ein Schimmern, nur etwa anderthalb Meter von mir entfernt. Es nimmt die Gestalt einer Person an. Kein gutes Zeichen. So schimmern nur Zeitreisende. Doch Abbie befindet sich gerade im siebzehnten Jahrhundert und außer mir ist niemand zu dieser kleinen Party eingeladen. Ich wende mich wieder der Schnur zu und hoffe, dass meine Augen mir einen Streich gespielt haben.
Vergeblich. Drei Sekunden später bin ich nicht mehr allein auf dem Dach. Ich seufze auf, als ich sehe, wer es ist.
Mario.
Mario ist ebenfalls einer von Onkels Time Catchern. Als Onkel ihn vor vier Jahren entdeckte, war er noch ein Straßenjunge, der sich größtenteils von den Küchenabfällen der Restaurants ernährte. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich damals von seinen Fähigkeiten war, aus den Mülltonnen die herzhaftesten Cannelloni und das zarteste Rauchfleisch herauszuholen.
Aber es ist schon wirklich lange her, dass ich mit ihm unterwegs war.
Als Onkel sich veränderte, ging das nicht spurlos an Mario vorüber. Plötzlich war er wie besessen vom Ehrgeiz, der beste aller Time Catcher zu sein, und um dieses Ziel zu erreichen, schreckt er nicht mal davor zurück, die einzige Person zu beklauen, die noch mehr Dinge rangeschafft hat als er selbst, nämlich mich.
Ich werfe einen angespannten Blick auf meinen Fingernagel. Nur noch zwei Minuten, um den Auftrag auszuführen.
»H allo, Caleb«, schmettert mir Mario entgegen.
Fast zucke ich zusammen. Für einen Moment bin ich davon überzeugt, dass seine Stimme die Wachtposten alarmieren wird, aber dann wird mir klar, dass er nicht laut, sondern mittels Gedankenübertragung gesprochen hat.
»H allo, Mario«, antworte ich auf derselben Frequenz. »L ass mich raten. Du warst gerade zufällig in der Nähe und wolltest nur mal kurz
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