Die Time Catcher
mir auf. Ich bin ein Kleinkind und gehe an der Hand meiner Mutter. Das weiche Gras ist wie ein Teppich unter unseren Füßen. »R iech mal, Caleb«, sagt sie und hält mir eine lila Blume hin. Ich rümpfe unwillkürlich die Nase und muss niesen. Sie lacht. Das Lachen meiner Mutter ist der süßeste Teil meiner Erinnerung. Verzweifelt versuche ich, sie festzuhalten.
»D eine Chi-Pause ist beendet, Robert«, gibt die Computerstimme bekannt. Das Lachen meiner Mutter löst sich in Luft auf.
Ich seufze, verlasse die Box und mache mich auf den Heimweg. Schon bald erblicke ich die Adresse Franklin Street 179. Ein hübsches Gebäude, sechs Stockwerke, roter Backstein, hölzernes Dekor über dem eleganten Eingang. Die Mieter entsprechen dem, was man sich in Tribeca erwarten kann: im Souterrain ein schickes griechisches Restaurant, eine Kunstgalerie im Erdgeschoss, darüber ein Hundezahnarzt, gefolgt von einer Kanzlei, die sich auf Medienrecht spezialisiert hat. Nichts Ungewöhnliches.
Man würde nie erraten, dass sich auf der dritten und vierten Etage der Firmensitz von Edles für die Ewigkeit befindet, einem Unternehmen, das die exquisiten Wünsche seiner Kunden erfüllt, indem es ihnen eigentlich unerreichbare Dinge aus der Vergangenheit beschafft.
Meines Wissens hat das Militär jahrelang geheime Forschungen angestellt, um Zeitreisen möglich zu machen, doch stets vergeblich. Also hatte man das Projekt namens Chronos eingestellt und geplant, alle Aufzeichnungen zu vernichten. Doch der Lastwagenfahrer des beauftragten Müllentsorgungsunternehmens deponierte sämtliche Unterlagen stattdessen in einer Lagerhalle, die er kurzfristig angemietet hatte. Nachdem der Fahrer (der zufällig einen Hochschulabschluss in Quantenphysik besaß) in zweijähriger Nachtarbeit sämtliche hundert Kisten durchforstet hatte, war er imstande, ein eigenes Zeitreisesystem zu entwerfen – und im Gegensatz zu dem des Militärs funktionierte es sogar.
»L astwagenfahrer entwickelt größte Erfindung des einundzwanzigsten Jahrhunderts« wären die Zeitungen betitelt gewesen, wenn sie es herausgefunden hätten. Haben sie aber nicht. Der Fahrer hat nie jemandem davon erzählt, auch nicht dem Militär. Er kündigte seinen Job, wurde zum Onkel einiger Adoptivkinder und schickte sie, als er sie für alt genug hielt, in die Welt hinaus, um Schätze für seine vermögenden Kunden zu stehlen, die keine lästigen Fragen stellten. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.
Es ist mittlerweile ein florierendes Unternehmen, vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, dass es keinerlei Werbung für sich macht. Als Team kommen Abbie und ich auf durchschnittlich vier Diebstähle pro Woche, genau wie die anderen Teams. Zählt man noch gelegentliche Einzelaktionen hinzu, verbuchen wir jeden Monat etwa fünfzig Diebstähle.
Abbie, die abgesehen von ihren sonstigen Fähigkeiten ein natürliches Talent besitzt, sich geheime Informationen zu beschaffen, hat herausgefunden, dass Onkels Kunden im Schnitt etwa hunderttausend Dollar für die kleinen Erinnerungsstücke aus der Vergangenheit bezahlen. Wir reden hier also über die Kleinigkeit von fünf Millionen Dollar im Monat … alles steuerfrei. Ein hübsches Sümmchen.
Zur Arbeit habe ich es nicht weit. Gemeinsam mit Mario und Raoul bewohne ich ein Zimmer im dritten Stock. Lydia, die Marios Diebespartnerin ist, teilt sich das andere Zimmer mit Abbie. Die Küche, der Aufenthaltsraum und Nassims Büro befinden sich ebenfalls im dritten Stock, Onkels Büro sowie unser Arbeitsraum im vierten.
Ich benutze meinen Computerarbeitsplatz in erster Linie, um mich über die lokalen Gegebenheiten und anderen Dinge zu informieren, die mir während eines Auftrags von Nutzen sein könnten. Es ist wirklich aufregend, was man im Netz so alles erfahren kann – zum Beispiel was die Höhlenbewohner im texanischen Pecos River Valley 9500 Jahre v. Chr. zum Frühstück gegessen haben.
Je mehr wir über das Leben der Leute an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wissen – das hat uns Onkel schon früh erklärt –, desto weniger laufen wir Gefahr, dort unangenehm aufzufallen. Und wer Diebstähle in aller Öffentlichkeit begehen will, ist natürlich darauf angewiesen, sich möglichst unauffällig der neuen Umgebung anzupassen. Ich muss jedoch zugeben, dass ich im Gegensatz zu Abbie nicht in der Lage bin, stundenlang vor dem Computer zu sitzen. Nach zwanzig Minuten fangen meine Beine an zu zucken, dann muss ich aufstehen und ein
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