Die Tochter der Hexe
mehr als einmal dabei, wie sie sich den Mund am Ärmel abwischte, statt die Mundtücher zu benutzen, oder den Braten mit der Hand von der Platte nahm anstatt mit dem bereitliegenden Messer.
Dabei hatte jeder von ihnen sich alle Mühe gegeben, es ihr leicht zu machen. Niemand hatte sie zum Reden gedrängt, abgesehen von Christoffel, dem Jüngsten, der nicht genug hören konnte von ihrem Leben bei den Gauklern. Hofers Tochter Margret, die, obwohl jünger als Marthe-Marie, sehr mütterlich und matronenhaft wirkte, hatte sie mit Essen und Trinken umsorgt wie eine Kranke. Dann war da noch Melchior, der Zweitjüngste, der auffallend still dabeisaß, bis sie erfuhr, dass er tatsächlich stumm war seit einem schrecklichen Unfall als kleiner Junge. Sie wusste nicht, was Hofer seinen Kindern erzählt hatte, aber sie fühlte sich aufgenommen wie ein lang zurückerwartetes Familienmitglied. Und sie musste ihrem Vater und ihren Halbgeschwistern versprechen, in Ravensburg zu bleiben.
«Du kannst Margrets Kammer haben, jetzt, wo sie verheiratet ist», hatte Hofer ihr angeboten. Als er indes merkte, wie sehr ihr das widerstrebte, gab er nach und versprach, sich in der Stadt nach einem Zimmer umzusehen.
«Ich kann verstehen, dass du Zeit brauchst. Aber vergiss nicht: Unsere Tür steht dir immer offen.»
Er war in allem sehr zartfühlend, nur eines hatte er sich nicht nehmen lassen: dass er ihr und Agnes am nächsten Tag neue Kleidung kaufen wollte.
Nach dem Essen, als die Magd mit Agnes in die Küche verschwunden war, hatte er seine Kinder hinausgeschickt. Marthe-Marie wusste, dass er jetzt Fragen stellen würde. So erzählte sie von ihrer Odyssee mit den Spielleuten und dem Grund ihrer Flucht aus Freiburg. Als die Rede auf Wulfhart kam, fiel ihr das Sprechen schwer.
«Lass nur», unterbrach er sie. «Wir haben noch so viel Zeit, miteinander zu reden. Ich denke, du solltest erst mal wieder zu Kräften kommen. Und die kleine Agnes auch. Wenn du einverstanden bist, würde ich sie gern bei uns behalten, zumindest so lange, bis du eine Unterkunft hast und alles seinen Gang geht. Unter Johannas Obhut ist sie bestens aufgehoben, die beiden haben ja von Anfang an einen Narren aneinander gefressen.»
Auch wenn es ihr schwer fiel, stimmte sie zu. Für Agnes hätte sie sich nichts Besseres wünschen können.
Dann sprachen sie über Catharina. Jetzt erst wurde Marthe-Marie klar, dass ihre Mutter in jener kurzen Zeit, in der sie mit Hofer in heimlicher Liebschaft zusammen war, gerade so alt gewesen war wie sie jetzt, und zum ersten Mal schmerzte es sie nicht, über sie zu reden. Und Benedikt Hofer erinnerte sich an so viele Einzelheiten, an ganz andere Dinge als die, die sie von ihrer Ziehmutter einst gehört hatte.
«Sie war so wunderbar. Mit ihr wäre ich bis ans Ende der Welt gegangen.» Verstohlen wischte er sich eine Träne aus den Augenwinkeln. «Und du hast viel von ihr. Vielleicht bist du mir deshalb gleich so vertraut gewesen. Du bist auch genauso dickköpfig wie sie.» Er lachte.
Dann war die Reihe an ihr, und sie schilderte ihre Begegnungen mit Catharina, die sie bis zu deren gewaltsamem Tod immernur als ihre Lieblingstante Cathi gekannt hatte. Catharinas heimlichen Mann Christoph, der ihr in ihren Jahren als Witwe zur Seite stand, erwähnte sie nicht, denn sie wollte ihren Vater nicht verletzen.
Die Stunden vergingen wie im Flug. Als sie sich schließlich verabschiedete und in die Küche ging, um nach Agnes zu sehen, lag ihre Tochter auf der Küchenbank und schlief mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Hatte Marthe-Marie bis zu diesem Moment vielleicht noch gezweifelt, so war sie jetzt sicher: Sie würde in Ravensburg bleiben.
Neben ihr begann Marusch jetzt leise zu schnarchen, und aus der Ecke hörte sie Lisbeth im Schlaf sprechen. Sie dachte an Agnes und musste lächeln: Ihre Kleine lag sicher mit vollem Bauch in Johannas Bett und träumte vom Schlaraffenland. Marthe-Marie wusste nicht, was Gott mit ihrem Leben noch vorhatte, doch eines war gewiss: Ihre Reise mit den Gauklern ging zu Ende. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen gegenüber Marusch und den anderen, die auch heute wieder mit knurrendem Magen zu Bett gegangen waren. Aber sie wusste inzwischen, wie stark ihre Freunde waren. Auch ihnen stünden wieder bessere Zeiten bevor, und für kein Bürgerhaus, für keine noch so reich gedeckte Tafel würden sie ihre Freiheit hergeben. Mochte Leonhard Sonntag im Moment auch noch so viel von Sesshaftigkeit
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