Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
Vom Netzwerk:
 
PROLOG:
ROBBIE
Juni 2022
     
    Das Haupttor des Instituts war durch eine Demonstration von
Gaisten blockiert, durch die der Taxifahrer nicht fahren wollte
oder konnte. Robbie Brekke bezahlte den Fahrer, nahm seinen alten
blauen Dufflecoat in die eine Hand und die Lederreisetasche in
die andere und stieg aus, um sich die Sache anzusehen.
    Es sah ganz spaßig aus. Ein bißchen spießig,
aber trotzdem spaßig. Männer und Frauen in kurzen
weißen Gewändern mit andeutungsweise orientalischem
Schnitt bildeten drei unregelmäßige Kreise. Jede
Gestalt drehte sich langsam um sich selbst und beschirmte dabei
mit einer Hand eine brennende weiße Kerze. Es war noch eine
Stunde bis zur Dämmerung; die Kerzenflammen waren kaum zu
sehen. Das störte keinen. Im Mittelpunkt jedes Kreises
kniete eine Frau – immer eine Frau – und bediente
eine Soundbox, die so eingestellt war, daß jeder Ton mit
einem unheimlichen Geheul herauskam. Alle lächelten.
    Ein Mädchen vom äußeren Rand des nächsten
Kreises kam zu Robbie herüber und hielt ihm eine
blaugrüne Rose hin, deren geflammte Blütenblätter
er von tausend elektronischen Reklametafeln kannte.
    »Die Welt ist eine lebende Rose, Bruder.«
    »Genau wie du«, sagte Robbie und lächelte sie
an. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich; die professionelle
Glückseligkeit verschwand, die Augen unter den dicken
schwarzen Wimpern blitzten auf, und sie begann gekonnt mit ihm zu
flirten. Die Augen waren leuchtend violett und sahen
unverschämt teuer aus. Junge Gaisten waren oft reich. Die
alten auch, aber die interessierten Robbie nicht.
    »Du bist ein Teil der Welt, Bruder, ein Teil der Rose.
Nichts, was du tun kannst, ist Mutter Gaia fremd.«
    »Wir könnten’s ja mal ausprobieren«,
schlug Robbie leise vor.
    »Bist du mit Mutter Gaia vertraut, Bruder?«
    »Nicht so vertraut, wie ich’s gern
wäre.«
    Sie zeigte ihre Grübchen. Die sahen ebenfalls teuer aus.
Teuer und durchsichtig. Robbie beschloß, noch einen
draufzusetzen. »In bezug auf die Gaisten hab ich mich zum
Beispiel immer gefragt…«
    »Ja?« Als er nicht antwortete, sondern nur weiter
lächelte, kam sie einen Schritt näher.
»Ja?«
    »Stimmt es, daß ihr alle unter euren
Gewändern nackt sein müßt?«
    Das Mädchen stieß ein entzücktes kleines
Lachen aus. Sie wandte sich von ihm ab und stolzierte zu ihrem
Kreis zurück. Robbie grinste und wartete. Auf halbem Weg
blieb das Mädchen stehen, warf einen Blick über die
Schulter zurück und schlug das Hinterteil ihres Kimonos bis
zur Taille hoch. Auf ihrem glatten, rosigen Po glänzte eine
holographische Rose.
    Robbie lachte. Das Mädchen verschwand zwischen den
Tänzern. Wirklich schade, dachte er, daß er einen so
wichtigen Termin hatte. Aber so war es nun mal.
    Und nein, es war nicht schade. Dies war seine
große Chance. Es war in der Tat geradezu wunderbar.
    Ein weiteres Taxi fuhr am Tor des Instituts vor. Ein Mann in
den Dreißigern stieg aus, eine Aktentasche in der Hand. Er
hinkte. Das Taxi fuhr davon, und der Mann blieb stehen und
musterte die Gaisten mit finsterer Miene, als seien sie
Scheiße an seinen Schuhen.
    Robbie lachte. Manche Leute hatten einfach keinen Sinn
für spaßige Sachen. Oder für Abenteuer. Mit der
blaugrünen Rose in der Hand watete Robbie in die
fröhlich kreiselnden Gaisten hinein und schenkte jedem von
ihnen sein Lächeln. Sie lächelten alle zurück. Das
Meer der weißen Gewänder teilte sich für ihn, und
er gelangte an das unter Strom stehende und mit Stacheldraht
bewehrte Tor des mit offizieller Genehmigung der Stadt Rochester,
New York, betriebenen Instituts für die Operative
Erschließung Früherer Leben.

 
1.
CAROLINE
     
    Jemand hatte eine Vase mit gelben Dahlien auf die
nüchterne, praktische Frisierkommode gestellt, und daneben
ein leeres Namensschild mit einem blauen Rand um die weiße,
glänzende Vorderseite. Ein Namensschild! Caroline
spürte, wie das hysterische Gelächter in ihr hochstieg,
als sie ihre Handtasche aufs Bett warf und zur Frisierkommode
hinüberging, gefolgt von einer dicken und allzu ernsten
>Hostess<.
    »Sagt Ihnen das Zimmer zu, Miss Bohentin?«
    »Das ist ja ein Namensschild.«
    Die Frau warf einen desinteressierten Blick auf die
Frisierkommode. »Ja. Für den Empfang heute abend. An
diesem ersten Tag wird Ihnen das Abendessen auf dem Zimmer
serviert, und dann möchte Doktor Armstrong alle
Operationskandidaten um acht Uhr im Rosenzimmer

Weitere Kostenlose Bücher