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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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sie. «Sei mir nicht böse, wenn ich wieder gehe. Es war dumm von mir, überhaupt hergekommen zu sein. Leb wohl, Marusch, und grüße Sonntag von mir.»
    Dann rannte er im Laufschritt davon, ohne auf Maruschs Rufe zu achten. Als er die Böschung zur Landstraße hinaufstolperte, da stand sie vor ihm, nicht einmal eine Armeslänge entfernt. Sie stieß einen Schrei aus, ganz leise nur, doch in seinen Ohren klang es wie ein gellender Schrei des Entsetzens.
    «Jonas?», flüsterte Marthe-Marie. Ihr Gesicht war wachsbleich, was ihren Blick noch dunkler erscheinen ließ.
    Regungslos starrte er sie an, wie einer seiner Schulbuben, wenn sie die Antwort auf eine Frage nicht wussten.
    Das warme Abendlicht verblasste, und die Welt verlor ihre Farbe. Doch vor ihm erhob sich gegen die Silhouette der Stadt ihre Gestalt, die von innen heraus strahlte wie eine Erscheinung des Himmels, die Gestalt einer Frau, für die er in diesem Moment sein Leben gelassen hätte.
    «Geh nicht weg, Marthe-Marie.» Hatte er diese Worte gesprochen? Oder sie nur gedacht? Warum sagte sie nichts? Wenn dies kein Traum war, dann musste er sie eigentlich berühren können.
    Er streckte die Hand aus und strich vorsichtig über ihren Unterarm.
    «Wie dünn du bist», sagte er leise.
    Sie schwieg noch immer. Ihm war, als schimmerten in ihren Augen Tränen.
    «Bitte sag etwas», bat er sie.
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Soll ich morgen wiederkommen oder übermorgen? Das ist mir gleich, ich wohne in Ravensburg. Ich habe hier eine Stelle als Schulmeister gefunden.»
    «Du wohnst hier?» Ihre Stimme klang rau, fast erschrocken.
    «Ja.» Er konnte sich nicht länger zurückhalten. Er nahm ihre beiden Hände in seine, spürte ihre Wärme, ihre Zerbrechlichkeit. «Glaub mir, ich habe versucht, dich zu vergessen. Aber es ist mir nicht gelungen. Ich schlafe mit deinem Bild vor Augen ein, und wenn ich erwache, sehe ich als Erstes dich. So viele Nächte habe ich von dir geträumt, mich an so vielen Tagen um dich gesorgt. Mir ist, als hätten wir uns niemals getrennt. Bitte, bleib bei mir. Ich will dich nicht noch einmal verlieren. Bleib bei mir und heirate mich.»
    Warum antwortete sie nicht? Hatte er heute Mittag also doch richtig beobachtet, richtig vermutet? War er zu spät gekommen?
    Er ließ ihre Hände frei. «Dann antworte mir wenigstens auf eine Frage: Bedeute ich dir etwas? Habe ich dir jemals etwas bedeutet?»
    «Ach Jonas, das ist es doch nicht. Sieh mich einfach nur an.» Sie öffnete ihren Mantel, der, wie ihm jetzt erst auffiel, nicht derselbe war wie heute Mittag, sondern nagelneu, aus warmem, gewalktem Grautuch. Doch darunter sah er einen zerrissenen Rock mit fleckiger Schürze, ihr Leibchen war aus zwei Teilen notdürftig zusammengenäht. Es war nicht mehr und nicht weniger als ein Haufen Lumpen, was sie da auf ihrem abgemagerten Leib trug. Wieder spürte er diesen eisernen Ring um sein Herz, und er hätte heulen mögen wie ein kleines Kind.
    «Ja, trau nur deinen Augen. Ich bin schon längst keine Bürgerstochter mehr. Ich gehöre zum Stand der Unehrlichen, viel zulange schon. Und du, du weißt gar nicht, was das bedeutet. Hast vielleicht ein paar Wochen mit den Komödianten verbracht, in ihrer besten Zeit mit Glitzer und Glimmer und herzlichem Applaus. Aber nicht einmal das ist uns geblieben. Hungernde Landstreicher sind wir, die kein Stadtwächter mehr einlässt, nichts anderes. Und was mich betrifft, die Marthe-Marie aus dem vornehmen Hause Mangolt: Tiefer als ich kann man gar nicht sinken. Ich habe die niedrigsten Arbeiten verrichtet, habe mit den anderen Früchte vom Acker und aus den Scheunen gestohlen und vorm Kirchenportal gebettelt. Ich habe Gras, faulige Wurzeln und Würmer gefressen wie die Wildschweine. Musste mit ansehen, wie man erst Mettel, dann den Medicus niedergemetzelt hat und wie Caspar vor Schwäche am Antoniusfeuer krepiert ist und zwei unserer Jungen beinahe am Galgen gelandet wären. Nur gehurt habe ich noch nicht, falls dich das interessiert. Nicht richtig jedenfalls.»
    Sie stieß ein bitteres Lachen aus, während ihr gleichzeitig die Tränen über die Wangen liefen. «Und da willst du mich heiraten? Du, Jonas Marx, Schulmeister der Stadt Ravensburg? Willst aus freien Stücken solche Schande über dich gießen wie einen Kübel Jauche? Das kannst du gar nicht wollen.»
    «Mein Gott, hör auf, so zu reden. Du magst Grausiges erlebt haben, magst in Lumpen gehen wie eine Bettlerin, aber das ist mir gleich. Und es gibt kein Gesetz,

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