Die Tochter der Hexe
nichts anderes übrig, als dem Kerl kräftig eins auf die Mütze zu geben und mich dann schleunigst mit der Kiste aus dem Staub zu machen.» Er verzog in gespielter Verzweiflung das Gesicht. «Noch eine Gegend, in der ich mich nicht mehr blicken lassen kann. Das scheint mein Schicksal zu sein.»
«Du bist verrückt, Diego. Verrückt wie ein Hutmacher.»
«Weit draußen vor der Stadt», fuhr er fort, «habe ich es dann gewagt, Rast zu machen und die Kiste aufzubrechen. Ehrlich gesagt: Bis zu diesem Moment hatte ich gar nicht daran geglaubt, etwas Wertvolles darin zu finden. Doch sie enthielt tatsächlich einige Hand voll Silbermünzen, Briefe, ein paar Bücher und dann diesen schweren Lederschlauch, den ich übrigens bis jetzt nicht geöffnet habe. Stell dir vor», er lachte, «in dieser ersten Nacht hatte ich geträumt, der Schlauch habe plötzlich zu schweben begonnen, höher und höher, bis er schließlich im Sternenhimmel verschwunden war. Wie schon meine Ahn immer gesagt hat: Hexengold und Musikantensold verfliegen über Nacht. Doch am nächsten Morgen war alles noch da.»
«Meine Mutter war keine Hexe», entgegnete Marthe-Marie scharf.
«Aber das weiß ich doch.» Sein Blick war voller Zuneigung. «Ich habe dabei auch eher an diesen Siferlin als Hexenmeister gedacht.»
Sie strich ihm vorsichtig über die Stirn. «Ich danke dir. Für alles, was du getan hast.»
Ihr war auf einmal, als lichte sich ein dichter Nebel: Der Kreishatte sich geschlossen. Sie war ans Ende ihrer langen Reise zu ihren Wurzeln gelangt. Sie hatte ihren Vater gefunden, und das, was ihre Mutter hinterlassen hatte, lag nun zu ihren Füßen. Es war Diegos Verdienst, der nicht um des Goldes willen die gefährliche Reise nach Freiburg auf sich genommen hatte, sondern allein ihr zuliebe, um das letzte Dunkel im Mosaik ihrer Herkunft aufzuhellen. Nie wieder wollte sie sich damit quälen, die Tochter einer vermeintlichen Hexe zu sein, weggegeben und aufgewachsen wie ein Kuckucksei in einem fremden Nest. Nein, im Gegenteil: Sie war stolz darauf, die Tochter von Catharina Stadellmenin und Benedikt Hofer zu sein.
Auf einmal stand Leonhard Sonntag vor ihr.
«Ich störe nur ungern – es geht um dich, Marthe-Marie. Nun, wir haben eben darüber gesprochen, dass –» Er räusperte sich. «Wir wollen dich nicht so sang- und klanglos gehen lasse. Wo du doch so lange Zeit bei uns warst. Wir möchten deinen Abschied feiern, wie es sich gehört unter besten Freunden. Der Neue stiftet als Einstand ein Fässchen Starkbier, und wir haben Klette und Tilman in die Stadt geschickt, um Brot und Käse zu besorgen.»
Diego sah zu Marthe-Marie. Seine grünen Augen glänzten. «Diese Feier wäre doch der richtige Moment, um den Lederschlauch zu öffnen – was meinst du?»
«Wahrscheinlich hast du Recht. Einen besseren Anlass gäbe es nicht.»
«Das ist schön!» Sonntag strahlte. «In einer Stunde treffen wir uns also alle am Feuer. Vielleicht ist bis dahin auch Pantaleon eingetroffen. Wann kommt dein Bruder dich abholen?»
«Demnächst, denke ich.»
«Dann soll er mit uns feiern. Wir wollen ihn schließlich auch alle kennen lernen. Wenn er uns schon die schönste Frau der Truppe wegnimmt.» Er lachte, doch unbeschwert klang es nicht.
Marthe-Marie ergriff seine Hand. «Ich möchte nachher amFeuer keine großen Worte sprechen, doch Ihr sollt wissen, wie dankbar ich Euch bin. Ihr habt mehr für mich getan, als ich Euch jemals vergelten kann.» Unwillkürlich war sie wieder in die Anrede des Respekts verfallen.
Sonntag wurde verlegen; er rieb sich heftig die Nase und auch ein wenig in den Augenwinkeln. «Danke dem Herrgott dort oben, nicht mir. Ich bin nur ein kleines Licht. Wir sehen uns dann, in spätestens einer Stunde.»
Er drückte ihr einen ungeschickten Kuss auf die Wange, dann eilte er davon. Diego folgte ihm.
Nach einigen Sekunden des Zögerns löste Marthe-Marie die Schnur von Diegos Reisesack. Sie zog die Bücher und Briefe heraus und legte sie in ihre Kiste. Die Bücher waren in gutem Zustand, obwohl einige, wie Marthe-Marie wusste, bereits ihrem Großvater gehört hatten. Neben einer lateinischen Bibel fand sie Bücher über Gartenkräuter, geschickte Haushaltung und fachgerechtes Brauen von Dünn- und Starkbier, eine Ausgabe des Tyl Ulenspiegel, eine Sammlung Schwänke von Hans Sachs und Valentin Schumanns «Nachtbüchlein». Dann hielt sie ein abgegriffenes, in Schweinleder gebundenes Tagebuch in der Hand. Sie erkannte die steile,
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