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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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einen von scharfen Zähnen zerrissenen Schuh, einen schmutzigen und blutverschmierten Unterrock und eine leuchtend rote Haarsträhne. Das Mädchen selbst bleibt verschwunden, und es soll noch lange dauern, bis der hungrige Geist sich wieder blicken lässt.«
    Seit ich denken konnte, hörte ich die immer gleichen Warnungen alter Frauen, ich müsse mich nach Einbruch der Dunkelheit von Sümpfen und Mooren fernhalten, da die Geister der Toten dort umgingen. Doch die Stimme meines Onkels hatte geklungen wie eine Art von Musik, eine düstere und verheißungsvolle Melodie, ein himmelweiter Unterschied also zu den langweiligen und beschränkten Liedern, die im Versammlungshaus gesungen wurden. Seine Worte hatten ein Ziehen in meiner Brust ausgelöst, als sei ich ein kleiner Fisch, der von einem Haken in den Rippen gegen die Strömung auf einem eigentlich unmöglichen Kurs an ein fremdes und gefährliches Ufer gezerrt wird. Die derben und schlichten Möbel im Raum wirkten auf einmal viel prächtiger. Das Feuer brannte warm, und die Funken, die daraus aufstiegen, sahen aus wie goldene Wolle. Die kleinen schwarzen Fensterscheiben verwandelten sich in Granate und Topase im Ohr eines Riesen. Als Hannah anfing, auf meinem Schoß herumzuzappeln, und sich gegen meine Hände wehrte, setzte ich sie auf den Boden. »Warum frisst der hungrige Geist eigentlich das Kind, obwohl die Frau im Dorf ihm doch etwas zu essen angeboten hat?«, wollte ich wissen.
    »Ein berechtigter Einwand«, erwiderte der Onkel mit einem Auflachen. »Fragen zu stellen, zeugt von einem wachen Verstand. Aber sei auf der Hut. Manchmal ist es besser, nicht zu viel zu zweifeln und sich mit einer gut erzählen Geschichte zufriedenzugeben. Insbesondere dann, wenn einem am Wohlwollen des Erzählers gelegen ist.« Das klang zwar sehr ernst, doch er zwinkerte mir dabei zu, sodass ich mich fühlte, als hätte er mich umarmt.
    Später auf meinem Strohsack hallte mir die Stimme des Onkels noch immer durch den Kopf, obwohl er schon längst im Bett lag. Ich schlief in jener Nacht tief und fest, war jedoch in meiner Vorstellungsgabe offenbar noch nicht ausgelastet, denn die Dämonen geisterten durch meine Träume.

    Am nächsten Tag langweilte ich mich. Ich war gereizt, wusste nichts mit mir anzufangen und hätte am liebsten eines der kleinen Bleiglasfenster geöffnet, um Hannah in den Schnee hinauszuwerfen. Erst nach dem Abendessen fand ich Erlösung, denn der Onkel erzählte uns, allerdings erst, nachdem wir ihn flehentlich angebettelt hatten, von seinen Abenteuern im Krieg gegen König Philip.
    »König Philip«, begann er und rutschte näher ans Feuer, »war der englische Name von Metacom, dem Häuptling des Stammes der Pokanokets. Er war ein stolzer und hochfahrender Mann, der glaubte, die englischen Siedler vertreiben zu können. Der Krieg brach 1675 in einem Dorf unweit von Bristol aus. Die Indianer hatten die Kuh eines Siedlers abgeschlachtet, woraufhin die Siedler einen Indianer umbrachten. Die Indianer rächten sich, indem sie den Farmern und ihren Familien die Schädel einschlugen, und so begann ein Gemetzel, bei dem die Siedlungen in einem Umkreis von Hunderten von Kilometern zerstört wurden.« Als er die Namen der angreifenden Indianerstämme herunterratterte, klang er wie ein Weberschiffchen, das gegen einen hölzernen Webstuhl schlägt.
    »Die Nipmuck, die Wampanoag und die Pokanoket fingen an, Dörfer und Farmen auf Rhode Island, in Connecticut und in Massachusetts zu überfallen. Also trommelte General Winslow eintausend Männer zusammen, die ordentlich in Reih und Glied im Indianergebiet einmarschierten. Ich war auch dabei, und zwar als Armeearzt. Bald entdeckten unsere Kundschafter in den Wäldern ein Lager der Narragansett. Es stimmt zwar, dass die Narragansett eigentlich friedlich waren, doch allein ihre große Anzahl bereitete den Neuengländern großes Kopfzerbrechen, und man hielt es nur für eine Frage der Zeit, bis sie sich ihren blutrünstigen Brüdern anschließen würden. Also legten wir bei Morgengrauen einen gefällten Baumstamm über den Fluss, und unsere Männer stürmten in einem Handstreich das Lager.
    Wir töteten schnell und gnadenlos und schickten die Narragansett bis auf den letzten Krieger in die Hölle. Als es Abend wurde, war der Boden so rutschig vom Blut der Erschossenen und Erstochenen, dass weder Männer noch Pferde mehr im Schnee vorankamen. Ich selbst habe im Laufe dieses Tages sechs oder sieben Indianer getötet. Es war

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