Die Tochter der Ketzerin
Fieber hört und erblickt, nichts weiter als Trugbilder sind. Einmal sah ich, wie sich die Zellentür von selbst öffnete. Ein schwarzer, unbeschreiblich magerer Mann mit langen Armen und Beinen schwang daran hin und her wie ein Spazierstock an einem schwankenden Ast. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht und legte einen Finger an seine zu einem Lächeln verzogenen Lippen, als teilten wir ein verbotenes Geheimnis. Ich drehte mich zu Tom um und wollte ihm den Mann zeigen. Aber da war er schon wieder verschwunden. Die Zellentür war wie immer fest verschlossen, und der Besucher schien außer mir niemandem aufgefallen zu sein. Zu anderen Gelegenheiten hörte ich die körperlosen Stimmen von Vater oder Dr. Ames, die mich riefen und mich aufforderten, aufzustehen, um Frühstück zu machen oder das Spinnrad zu bedienen. Wenn ich antwortete, hallte meine eigene Stimme trotzig und laut in meinen Ohren.
Manchmal spürte ich, wie Hände mich auf den Rücken drehten, so sehr ich mich auch dagegen wehrte und mich tiefer ins Stroh wühlte, um meine Augen vor dem grellen, wie Nadelstiche schmerzenden Licht zu schützen, das man mir ans Gesicht hielt. Feuchte Tücher wurden mir auf die Stirn gedrückt. Doch ich schob sie sofort wieder weg, denn sie fühlten sich an wie die Hände von Toten auf meiner Haut. Obwohl ich nur noch schlafen wollte, schien die Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen eine Ewigkeit zu dauern, wenn meine Gliedmaßen wieder im Schüttelfrost zuckten, und ein bellender Husten mir den Brustkorb zu sprengen drohte. Dicht neben mir hörte ich das Ungeziefer rascheln, und einmal ertappte ich zwei Ratten dabei, wie sie mich, ein aufmerksames, ja, vielleicht sogar mitfühlendes Funkeln in den roten Augen, betrachteten. Als sie Männchen machten und ein Gespräch miteinander begannen, klangen ihre Stimmen hoch und zittrig wie die alter Frauen. »Soweit ich weiß, haben sie vor ein paar Tagen in Salem einen Hund gehängt«, sagte die eine. »Ja«, erwiderte die andere. »Und ich habe gehört, sie wollen jetzt zu dieser Stunde in Andover einen anderen hängen.« Die beiden kicherten verschwörerisch wie alte Freunde über einen guten Witz. Doch als sie mich wieder ansahen, stellte ich fest, dass sie spitze gelbe Zähne hatten. Im nächsten Moment ertönte ein jämmerliches Miauen wie das einer kleinen Katze, die in einem Sack ertränkt werden soll. Die Ratten schüttelten besorgt die Köpfe und musterten mich. »Es ist noch sehr klein und wird wahrscheinlich nicht überleben«, meinte die Größere der beiden. »Außerdem ist da so viel Blut …« Dann nahmen sie wieder die verhuschte geduckte Körperhaltung ein, die ihrer Art schon seit Menschengedenken eigen ist, und verschwanden auf dem dunklen Fußboden im Stroh.
Einmal erwachte ich aus einem Traum und stellte fest, dass ich mit jemandem sprach, der neben mir saß. Ich hatte ein leichtes, aber nicht unangenehmes Klingeln in den Ohren, und ich sah jeden Gegenstand so überdeutlich, als wäre er schwarz eingerahmt, sodass er sich scharf von seiner Umgebung abhob. Um meine Brust lag ein enges Band, und meine Luftröhre hatte sich in eine dünne Schnur verwandelt.
»Aber warum muss ich bleiben?«, hörte ich mich fragen.
Ich spürte eine Berührung an den Fingern, und als ich den Kopf drehte, stellte ich fest, dass Tom meine Hand hielt. Sein Gesicht glänzte feucht, und ich bemerkte, dass er geweint hatte. Eigentlich wollte ich ihn trösten, doch meine Zunge fühlte sich geschwollen und träge an. So konnte ich nur ganz ruhig daliegen und seiner leisen, bebenden Stimme lauschen. »Erinnerst du dich an den letzten Juni, Sarah?«, sagte er. »Mutter war gerade verhaftet worden, und wir beide waren mit Vater allein auf dem Feld.«
Obwohl jede Bewegung unendlich mühsam war, senkte ich mein Kinn zu einem Nicken. »Wir waren dabei, die Felder vor der Aussaat umzupflügen«, fuhr er fort. »Und da geschah etwas. Ich … ich drehte mich um und sah die Reihen, die wir am Vortag und am Tag davor gepflügt hatten. Dann schaute ich geradeaus und hatte nichts als Steine und Baumstümpfe vor mir, die entfernt werden mussten. Für immer, den Rest meines Lebens lang, würde ich einen Riemen um die Schultern tragen und mich damit abplagen müssen, die nackte Erde von Hindernissen zu befreien. Alles war so schwarz. Und da habe ich den Riemen weggeworfen und mich ins Bett gelegt.
Später kam Vater und setzte sich zu mir. Anfangs schwieg er und saß einfach nur da, bis es
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