Die Tochter der Ketzerin
seinen Gehilfen den Flur entlangging, folgte ihnen ein kleines Rinnsal. Die beiden Gehilfen schüttelten ihre nassen Mäntel aus, während der Sheriff Samuel Wardwell aus der Männerzelle holte. Sarah Wardwell bekam einen Platz an der niedrigen Mauer und hielt den Säugling hoch, damit ihr Mann sein Kind durch die Gitterstäbe sehen konnte. Nachdem er die Treppe hinaufgeführt worden war, holte man die acht alten Frauen aus der Zelle. Hinkend und zitternd vor Kälte, tasteten sie sich langsam die glitschigen Stufen hinauf und blieben nur stehen, um denen zu helfen, die nicht weitergehen konnten oder ausgerutscht waren. Schließlich waren sie oben angelangt, und ihre Schritte verklangen im rauschenden Regen.
Martha Corey, Alice Parker, Mary Easty, Ann Pudeator, Wilmot Redd, Mary Parker, Margaret Scott und Samuel Wardwell beteuerten bis zum Tode ihre Unschuld. Doch als der Henkerskarren auf dem Weg zum Galgenhügel im Schlamm stecken blieb, riefen die Schaulustigen nur: »Seht, der Teufel will den Karren aufhalten!«
Am Tag nach den Hinrichtungen zog Sheriff Corwin mit seinen Gehilfen los, um die gesamte Habe und die Häuser der Parkers und der Wardwells zu beschlagnahmen. Der Besitz fiel zwar der Krone zu, doch die Corwins beanspruchten den Löwenanteil. Während es Mary Parkers Söhnen gelang, alles zurückzukaufen, musste Sarah Wardwell bei ihrer Rückkehr auf die Farm feststellen, dass das Vieh, der gesamte Mais, jedes Möbelstück, ja sogar die Schreinerwerkzeuge ihres Mannes fortgeschafft und für Bargeld verkauft worden waren. An jenem Freitag, dem 23. September, starb die Tochter des Sheriffs, und als seine Frau nicht zu ihrer täglichen Runde erschien, wusste ich, dass ich von ihr keine Lebensmittelgeschenke mehr zu erwarten hatte.
Ysop gegen Husten. Rosmarin bei Fieber. Ein Pfefferminzzweiglein, um einen schlechten Geschmack aus dem Mund zu vertreiben. Ulmus fulva hilft der Hebamme. Rosskastanien heilen steife Glieder. Misteln bei Lähmungen. Doch wie heißt das richtige Mittel gegen rasende Wut? Kamille kann beruhigend wirken. Wenn man genug davon in einem starken Trank aus Schwarzpulver und Salzen einnimmt, wird sie vielleicht aus dem Körper gespült. Und was ist mit einem ruhelosen Verstand, der einfach nicht pünktlich einschlafen will? Ein Lavendelkissen oder ein Schlaftrunk, der zu gleichen Teilen aus Rum und Wasser mit Laudanum besteht, nützt immer.
Und was lindert die Qualen einer Seele, die Schuld auf sich geladen hat? Welchen Stoff soll man kauen, schlucken oder anderweitig einnehmen, damit die giftigen Selbstvorwürfe durch die Poren ausgeschieden werden? In welchem Organ des Köpers nisten sie sich ein? Eine nässende Wunde kann man verbinden. Eine Verbrennung oder eine geschwollene Pustel lässt sich mit einem Klecks Salbe behandeln. Gift kann man mit einem Blutegel oder einer Lanzette entfernen. Doch die Schuld ist ein Gespenst, das sich der Körperform seines Wirts anpasst und alles Weiche verschlingt, das diese Hülle beherbergt: Gehirn, Gedärme und Herz. Ich kann sie weder wie einen Glassplitter herausziehen noch mit Kräutertinkturen behandeln.
Ganz in meiner Nähe erhebt sich ein Wimmern. Die alte Frau mit dem faulen Zahn hört einfach nicht auf zu klagen. Der Arzt war da und hat sie angefleht, sich den Zahn ziehen zu lassen. Ihre Zellengenossinnen haben gebeten, gebettelt und ihr sogar zugesetzt, damit sie sich ein Stück Schnur an den verrotteten Stumpf bindet und ihn sich aus dem geschwollenen Kiefer entfernt. Aber sie weigert sich, hält sich den Mund zu und stöhnt und stöhnt, bis ich am liebsten laut losschreien und gar nicht mehr aufhören würde.
Es ist mitten in der Nacht. Ich beobachte, wie sie sich hin und her wiegt. Die nackten Füße hat sie ausgestreckt. Ihre Zehen krampfen sich vor Schmerz immer wieder zusammen. Wie ihre mageren, nackten weißen Beine unter ihrem Hemd hervorragen, das hat gleichzeitig etwas Anrührendes und Abstoßendes an sich. Etwas regt sich in meinem Gedächtnis, und plötzlich sehe ich ein nacktes Bein aus einem flachen Grab ragen. Ich versuche, diesen Gedanken beiseitezuschieben, denn schließlich weiß ich, dass es sich nicht um eine echte Erinnerung handelt. Sie ist nur entstanden, weil ich die anderen Frauen in der Zelle belauscht habe, die sich unterhalten und einander Geschichten erzählen. Es sind Einzelheiten, die sie von ihren Angehörigen erfahren haben. Über die Hinrichtungen. Die anschließenden Beerdigungen. Die Toten. Die
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