Die Tochter der Ketzerin
kannte. Unser Feld in Billerica war nicht sehr fruchtbar und warf deshalb nur wenig ab. Außerdem waren in letzter Zeit alle unsere Tiere krank geworden und gestorben, als hätte die Erde selbst die Böswilligkeit und die Gemeinheiten unserer Nachbarn in sich aufsogen wie einen giftigen Dunst. Tom war zwar mein engster Vertrauter, musste jedoch mit seinen zehn Jahren Richard und Andrew auf dem Feld helfen. Also verbrachte ich meine eintönigen Tage damit, Hannah zu hüten und, eingesperrt ins Haus, meiner Mutter zur Hand zu gehen. Als ich überlegte, was ich meiner Großmutter Wissenswertes berichten könnte, fiel mir ein Tag im letzten Frühjahr ein.
»Eines Tages«, begann ich, »im vergangenen Mai, habe ich Hannah schlafen gelegt und bin losgelaufen, um Tom nachzuspionieren. Weil ich eigentlich nicht dort sein durfte, habe ich mich hinter einer Steinmauer versteckt. Und da habe ich gesehen, wie Vater Richard und Andrew das Pfluggeschirr umgelegt hat. Tom ging vor ihnen her und wälzte Steine vom Feld, die so groß waren wie sein Kopf. Er schwitzte und keuchte dabei ganz fürchterlich. Währenddessen stand der Ochse angebunden an einen Baum im Schatten. Als ich Tom beim Abendessen nach dem Ochsen fragte, flüsterte er mir zu, Vater wolle ihn für leichtere Arbeiten schonen, da wir ja nur diesen einen Ochsen hätten. Er sei schon sehr alt, und wenn er stürbe, würde es sehr schwierig für uns.«
Großmutters Fuß hielt inne, und das Rad hörte langsam auf, sich zu drehen. Dann zog sie mich an sich. »Das Leben kann sehr hart sein, Sarah«, antwortete sie. »Gott prüft uns, um zu erfahren, ob wir auch fest an ihn glauben, ganz gleich, was geschieht. Deshalb müssen wir Gott in seinem Haus aufsuchen und auf seine Geistlichen hören, damit wir nach unserem Tode belohnt werden.« Sie hielt inne, um eine Haarsträhne unter meine Haube zu schieben. »Was sagen denn deine Eltern dazu?«
Ich strich mit dem Finger über die Falten in ihrem Gesicht. »Vater findet, dass die Geistlichen in Neuengland nicht besser sind als die Könige in der alten Welt.«
»Und deine Mutter? Ist sie auch dieser Ansicht?«, fragte Großmutter.
Darauf berichtete ich ihr von Mutters Erlebnis mit einem durchreisenden Pastor, der gerade aus der Wildnis im Eastward im Bezirk Maine zurückgekehrt war. »Sind Sie der Pastor, der ganz Salmon Falls dient?«, hatte Mutter sich erkundigt. »Nein, Goodwife Carrier«, entgegnete er. »Ich bin der Pastor, der ganz Salmon Falls regiert.«
Eigentlich hatte ich Großmutter mit dieser Anekdote aufheitern wollen, doch sie umfasste mit beiden Händen mein Gesicht. »Pastoren sind auch nur Menschen, und Menschen können irren. Aber auf Reverend Dane lasse ich nichts kommen. Er war der Ehemann meiner Schwester und hat sich seit dem Tod deines Großvaters um mich gekümmert.« Die Hände weiterhin auf meinen Wangen, verstummte sie und schaute an mir vorbei ins immer noch dämmrige Zimmer. Die Sonne hatte die untere Fensterkante noch kaum erreicht, sodass die Schatten, die sich an den Wänden malten, aussahen wie Vorhänge aus schwarzem Samt. Eine Eule, die die Jagd für diese Nacht beendet hatte, stieß einen letzten kämpferischen Schrei aus. Großmutter hob das Kinn und schnupperte, als sei ihr eine warnende Rauschschwade aus dem Kamin in die Nase gestiegen. Ihr Griff wurde fester, und sie zog mich an ihren warmen Körper.
Inzwischen glaube ich, dass einige Frauen Dinge sehen können, die noch gar nicht eingetroffen sind. Meine Mutter besaß ganz sicher diese Gabe, denn oft rückte sie ohne ein Wort ihre Haube zurecht, strich ihre Schürze glatt und blickte die menschenleere Straße entlang, die zu unserem Haus führte. Und wirklich erschien über kurz oder lang ein Nachbar oder ein Reisender im Garten und stellte überrascht fest, dass Goodwife Carrier ihn bereits an der Tür erwartete. Vielleicht hatte sie diese Gabe von ihrer Mutter geerbt. Allerdings war es Großmutter offenbar klar, dass Wissen und Einflussnahme zwei völlig verschiedene Dinge sind. Jedenfalls ließ sie mich los und begann wieder zu spinnen. »Finde dich mit dem ab, was dir durch den Willen Gottes widerfährt«, sagte sie und griff nach dem Wollstrang. »Ganz gleich, wie hart es auch sein mag. Aber wenn du in Not bist, wende dich an Reverend Dane. Ihm wird etwas einfallen, um dir zu helfen. Hast du mich verstanden, Sarah?«
Ich nickte und leistete ihr noch eine Weile Gesellschaft, bis Mutter nach mir rief. Später erinnerte ich mich
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