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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Stammheim, Jena:
Mai 1976

    Ein vager Grauton, nicht unähnlich dem künstlichen Lichtschein, der zur Nachtzeit über Europas Industriezonen liegt; diese Stadt gehört dazu, und auch wieder nicht. In der abnehmenden Dunkelheit treten Vegetation und Gebäude wie tiefere Schattierungen von Grau in Grau hervor. Bis schließlich ein blasser Lichtstreif im Osten ein paar scharf gezeichneten Silhouetten Kontur gibt. Dachfirste, Fernsehantennen; Baumkronen, deren frisch ausgeschlagene Laubmassen sich träge in einer Brise bewegen, die den Geruch von Braunkohlenrauch und etwas Strengem, Stechendem heranträgt: vielleicht Sulfit. Straßen, gesäumt von Bürgersteigen mit bröckelnden Bordsteinen. Hier und da ein geparktes Auto. Graue, anonyme Nummernschilder. In den Heckfenstern aufgespannter Sonnenschutz, Magazine, deren vergilbte Umschläge sich an den Rändern kräuseln.
    Ein Eigenheimgebiet. Die Viertel bemessen von hohen Eisenzäunen, kompakten Heckenlinien. Hinter Zäunen und Hecken nehmen Gärten ihren Anfang, einige so tief in ihrem frischem Grün versunken, dass das Licht die Dinge nur mit Mühe aus ihren Schatten zu heben vermag. Eine Hollywoodschaukel, die weiß gestrichenen Stahlrohrbeine halb im Gras verborgen; eine Sonnenuhr. Näher am Haus ein sorgfältig gepflegtes Rosenbeet. Vor dem Giebel ein großer Jasminbusch. In seinen Zweigen brennt eine Laterne, nun, da sich das Licht über den Himmel ausbreitet, mit schwindendem Glanz. Das Haus ist von Efeu überwuchert; die Fenster des Erdgeschosses lassen sich kaum erkennen.
    Die ersten Möwen kommen über die Dächer geglitten, hängen mit steifen Flügelpaaren in der Luft; schwenken dann ab. Plötzlich, ohne dass sich das Geräusch lokalisieren ließe, erklingt ein lautes, eintöniges Kreischen, so als hätten die Vögel irgendwo auf einem Hinterhof etwas gefunden.
    Dann treffen die ersten Lichtstrahlen auf die Fenster des hohen schmalen Turmzimmers des Hauses. Die Scheiben sind geblendet: verwandeln sich in Spiegel.
    Das Licht erhält Kraft. Es ist, als presse es die Dunkelheit mit beiden Händen von sich. Gleichwohl hat die Szene den Charakter eines invertierten Bildes: nicht allein, weil das Licht aus der falschen Richtung kommt. Jegliche Bewegung spielt sich am Himmel ab. Darunter liegt die Stadt betäubt und still. Kein Bus, nicht einmal das Geräusch in der Ferne vorbeirauschenden Verkehrs.
    Und die Möwen segeln weiter vom Himmel herab; sie erheben sich in kreischenden Schwärmen. Ein langer Straßenzug, gesäumt von Bushaltestellen und Straßenlaternen in geraden Reihen, als markierten sie die Linie zu einem ständig entgleitenden Fluchtpunkt; eine Ewigkeitsperspektive. Auf dem Asphalt spazieren Möwen, die vage gezeichnete Mittellinie wahllos kreuzend; bis das Geräusch eines dröhnenden Automotors sie plötzlich zum Auffliegen bringt. Ein Meer weißer Flügel, die sich aus eigener Kraft zum Himmel emporziehen. Der LKW fährt vorüber, die Plane über der Ladefläche langsam flatternd, ein Balg, der sich in eigenem Rhythmus öffnet und schließt. Eine Zeitlang lärmen die Möwen über den Häuserdächern, sinken dann erneut auf die Fahrbahn hinab. Das Licht brennt auf den Pflastersteinen. Der Kohlengeruch ist jetzt deutlicher zu spüren. Noch immer kein Mensch in Sicht.
    Schweres Geschepper, Eisen auf Eisen; ein rasselnder Schlüsselbund. Schlurfende Schritte, das Echo verstärkt wie in einem Tunnel oder Treppenhaus. Eine heisere Stimme ruft: Los jetzt, Beeilung, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit , das Echo matter. Eine Tür öffnet sich, schlägt wieder zu.
    *
    Will die Angeklagte Frau Meinhof so freundlich sein und sich erheben?
    Ich erhebe mich nicht für ein Arschloch wie Sie.
    Entschuldigung, was haben Sie gesagt? Können Sie so freundlich sein und der Deutlichkeit halber ins Mikrofon sprechen?
    Ich erhebe mich nicht für ein Arschloch wie Sie.
    Kann ich das ins Protokoll aufnehmen? Dass Sie den Vorsitzenden des Gerichts ein Arschloch genannt haben?
    Ein faschistisches Arschloch.
    Entschuldigung? Sprechen Sie ins Mikrofon.
    Ein faschistisches Arschloch.
    Kann ich das ins Protokoll aufnehmen lassen? Dass die Angeklagte Frau Meinhof das Vertrauen des Gerichts missbraucht, indem sie dessen Vorsitzenden ein faschistisches Arschloch nennt.
    Ich nehme es zurück .
    Sprechen Sie ins Mikrofon!
    Ich nehme es zurück.
    Eine Null ist das richtige Wort.
    Frau Meinhof …?
    Eine verdammte faschistische Scheißnull!
    *
    Derselbe lange Straßenzug, die

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