Die Tochter der Seidenweberin
entströmte, hatte sie erhitzt, und so öffnete sie den mit buntem Glas gefüllten Fensterrahmen. Nicht jeder schien diesen Abend feierlich zu begehen, stellte sie fest. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße mühte sich ein betagtes Weib damit ab, ein schweres Bündel in einen Verschlag zu schaffen, der zugleich als Laden und Wohnstatt diente. Vielleicht hielt die Alte immer noch daran fest, das neue Jahr mit dem Osterfest, der Auferstehung Christi zu beginnen, anstatt mit der Geburt des Herrn, wie es jeder anständige Christenmensch tat.
Sei es drum! Die alte Krämerin schien ohnehin ein wenig seltsam zu sein, dachte Fygen und schloss das Fenster, als Katryn zu ihr trat.
»Was grübelst du?«, fragte die Freundin. »Lässt dir die Arbeit wieder keine Ruhe? Warum lässt du heute nicht Geschäft Geschäft sein und genießt wie alle anderen das Fest?«
Schon seit früher Jugend, seit den Tagen, in denen sie gemeinsam den Schikanen ihrer Lehrherrin Mettel getrotzt hatten, verband sie eine innige Freundschaft, und wie ehedem hatte Katryn auf den ersten Blick bemerkt, dass Fygen etwas auf der Seele lastete.
Fygen blickte die Freundin mit einem warmen Lächeln an. Katryn war nur um wenige Jahre älter als sie, doch der Tod ihres geliebten Mannes hatte sie rascher altern lassen. Wobei es weniger der Tod selbst war, dachte Fygen, als vielmehr die grausigen Umstände von Mertyns Erkrankung, die ihn langsam dem Wahn hatten verfallen lassen, bevor er starb. Peter, der mit Mertyn zu reisen pflegte, hatte ihr gegenüber damals die Vermutung geäußert, dass dieser sich das Leiden in England eingefangen hatte, im allzu freizügigen Umgang mit den Hübschlerinnen. Fygen hoffte inständig, dass niemand etwas Vergleichbares Katryn gegenüber erwähnt hatte.
Unauslöschlich hatte der Kummer violette Schatten unter Katryns nussbraune Augen gezeichnet, und ihre spinnwebzarte Haube ließ erkennen, dass ihr Haar darunter beinahe vollständig ergraut war.
Ja, vielleicht hatte Katryn recht, dachte Fygen. Warum tue ich mir das eigentlich an? Aus finanzieller Notwendigkeit heraus sicher nicht. Peter hat mich mehr als wohlversorgt zurückgelassen. Weil ich keine Lust verspüre, mich auf mein Altenteil zurückzuziehen und meine Enkelkinder auf dem Schoß zu wiegen, gab Fygen sich selbst die Antwort. Dafür fühle ich mich einfach noch nicht alt genug.
Bevor sie noch ein Wort erwidern konnte, tat es einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem markerschütternden Schrei. Kostbares Glas zerbarst gleich neben ihnen auf den hölzernen Bodendielen, und roter Wein spritzte auf.
Fygen und Katryn fuhren erschrocken herum. Wieder einmal war es geschehen: Die ungeschickte Maren war über ihre krummen Füße gefallen und der Länge nach hingeschlagen.
Unter lautem Wehklagen gelang es Maren, sich auf den Rücken zu wälzen. Wie ein dicker Käfer lag die füllige Magd da, zur Gänze durchweicht von dem Wein, den Hilda ihr den Gästen zu kredenzen aufgetragen hatte, und ruderte hilflos mit ihren fleischigen Armen und Beinen in der Luft.
Fygen presste die Hand auf den Mund und unterdrückte mit Mühe ein Lachen, obwohl sie den Verlust der Gläser bedauerte. Sie konnte sich nicht erinnern, wie viele Male sie Maren im vergangenen Vierteljahrhundert geraten hatte, achtsamer zu sein und beim Gehen die Füße zu heben.
Unwillkürlich vermeinte sie Peters Stimme zu hören. Er hatte Maren als die einzige ihm bekannte Katastrophe bezeichnet, die den Schaden, den sie anrichtete, hernach auch selbständig beseitigte. In panischer Eile hatte er stets die Flucht ergriffen, wenn Maren mit Besen oder Staublappen bewehrt in seine Nähe kam.
Peter. Dies war nun bereits das zweite Neujahrsfest ohne ihn, dachte Fygen wehmütig. Die Vorstellung, nie wieder seine Arme um ihre Schultern zu spüren, nie wieder sein verschmitztes Lächeln zu sehen, das Blitzen seiner unverschämt blauen Augen, schmerzte Fygen noch sehr. Oft kamen ihr seine Worte in den Sinn, gerade in Situationen wie dieser.
Unbewusst biss Fygen sich auf die Unterlippe. Die Neujahrsnacht war wohl dazu angetan, der Menschen zu gedenken, die von uns gegangen sind, dachte sie, und mit ihrem Kummer stand Fygen ja nicht allein. Ihre Töchter, vor allem Lisbeth, die Jüngste, die der Liebling ihres Vaters gewesen war, vermissten Peter ebenso.
Auch Lijse fehlte ihnen. Fygens betagte Kinderfrau hatte den Sommer nicht überlebt. Eines klaren Junimorgens war die gütige alte Frau, die Fygen mehr eine Mutter
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