Die Tochter der Wälder
andere. Und wieder. Geradeaus ins Dunkel.
Als die Männer zurückkamen und mir Wasser und ein Stück trockenes Brot brachten, hörte ich, wie sie miteinander sprachen, und wusste, dass Conor ihnen entkommen war. Sie hatten das Flussufer die ganze Nacht beim Fackellicht abgesucht, aber keine Spur von dem Fremden gefunden. Er hatte sich in Luft aufgelöst, tatsächlich. Man würde kaum glauben, dass er jemals da gewesen war, wenn man ihn nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Ein großer, gewalttätiger Bursche war er; einer von diesen irischen Häuptlingen, von denen man hörte, die einem mit einer einzigen Bewegung das Genick brechen konnten, wenn man ihnen die Gelegenheit gab. Insgeheim waren die meisten froh, ihm nicht begegnet zu sein, dort draußen in der Nacht. Aber Lord Richard war nicht froh darüber. Überhaupt nicht.
Lange Zeit kam niemand mehr vorbei. Die Tür öffnete sich, man warf mir den leeren Eimer wieder herein oder nahm den benutzten mit. Man hinterließ eine magere Mahlzeit. Ich war daran gewöhnt, zu hungern. Schlimmer war das Fehlen von Licht, die leeren Steinmauern, das winzige Fenster so weit über meinem Kopf. Noch schlimmer die Qual, nichts tun zu können. Denn ich war dem Ende meiner Arbeit so nahe gewesen. Fünf Hemden fertig, und nur noch eines herzustellen. Dass man mir das entrissen hatte, dass ich hier eingeschlossen war ohne die Möglichkeit, meine Arbeit zu vollenden, war wahrlich grausam.
In meiner Verzweiflung begann ich, mir wieder Geschichten zu erzählen. Culhans Werbung um Lady Edan. Die vier Kinder des Lir. Nein, vielleicht das doch lieber nicht. Niamh mit dem goldenen Haar. Den Becher von Isha. Diese Geschichte hatte einen Helden, der sehr gut warten konnte. Medb, die Kriegerkönigin mit ihrer Vorliebe für junge Helden. Simon hatte darüber gelacht. Und die Geschichte von Toby und seiner Meerjungfrau. Von allen Geschichten, die ich je erzählt hatte, von allen Geschichten, die ich je gehört hatte, war das die, die ich am meisten liebte. Wer hätte sich träumen lassen, dass der Rote eine solche Geschichte erzählen konnte?
Ich wusste nicht, wie viel Tage vergangen waren, aber es waren viele, und ich sah niemand außer meinen Wachen. Dann ging eines Morgens die Tür auf, und Lady Anne kam herein, mit ein paar Frauen hinter sich, und sie hatten meinen Spinnrocken und die Spindel, meinen Korb mit Mieren, meine Nadeln und den Faden dabei. Oben in den Korb hatte jemand die fünf vollendeten Hemden geworfen. Ich konnte mich nur mühsam zusammennehmen, sie nicht sofort an meine Brust zu reißen. Lady Anne sah sich in der Zelle um und runzelte die Stirn. Die Frauen betrachteten mich ängstlich. Ich muss keinen schönen Anblick geboten haben, schmutzig, mit wirrem Haar und im plötzlichen Licht aus dem Flur blinzelnd. Lady Anne schickte die Frauen weg.
»Dir ist klar«, sagte sie leise, »dass ihm dies das Herz brechen wird.« Es war, als hätte sie mich ins Gesicht geschlagen. Ich starrte sie an, als sie die Nase krauszog. Wahrscheinlich roch ich nicht so, wie eine Dame riechen sollte.
»Mein Sohn hat dich geliebt«, fuhr sie fort und verblüffte mich damit noch mehr. »Er hat dich so geliebt wie nie zuvor ein lebendes Wesen; mehr, als er das Tal selbst liebt. Ich habe es für eine flüchtige Angelegenheit gehalten, jugendliche Leidenschaft, die mehr mit den Bedürfnissen des Körpers als mit dem Herzen zu tun hatte. Er hat das Gegenteil bewiesen, in dem er dir seinen Namen gab, obwohl es sich gegen alles richtete, woran er glaubte. Wie konntest du ihm das antun? Wie konntest du uns das antun? Wir haben dir Zuflucht gegeben, wir waren freundlich zu dir, wenn man bedenkt, was du bist. Ist der Hass in dir so bitter, dass du alles zerstören musst, was uns lieb ist? Hat man dich deshalb hergeschickt?«
Langsam schüttelte ich den Kopf. Ich hasse euch nicht. Das habe ich nie getan. Ich will nur meine Arbeit zu Ende bringen. Und du irrst dich über deinen Sohn, du irrst dich – ohne sprechen zu können, konnte ich nichts erklären.
»Dein Volk hat Simon getötet«, sagte Lady Anne müde, »ihr habt Hugh zerstört. Was wollt ihr noch?«
Wie kannst du das sagen, wenn ich hier gefangen sitze? Es war dein Sohn, der mich hergebracht hat. Ohne ihn wäre ich nie nach Harrowfield gelangt. Ich habe diesen Weg nicht gewählt. Ich war stumm. Sie seufzte.
»Trotz allem fühle ich mich verpflichtet, den Wünschen meines Sohnes zu entsprechen. Trotz allem. Er hatte großes Vertrauen in
Weitere Kostenlose Bücher
Inherit the Dead Online Lesen
von
Jonathan Santlofer
,
Stephen L. Carter
,
Marcia Clark
,
Heather Graham
,
Charlaine Harris
,
Sarah Weinman
,
Alafair Burke
,
John Connolly
,
James Grady
,
Bryan Gruley
,
Val McDermid
,
S. J. Rozan
,
Dana Stabenow
,
Lisa Unger
,
Lee Child
,
Ken Bruen
,
C. J. Box
,
Max Allan Collins
,
Mark Billingham
,
Lawrence Block