Die Tochter des Kardinals
Rufina.
»Er ist tot«, antwortete Giulia.
Rufina blickte zur Seite und nickte langsam. »Es ist gut«, sagte sie. »Ich bleibe im Petersdom, bis wir gemeinsam diesen Ort verlassen, um nach Santa Annunziata zurückzukehren. Und nun schlaf, mein Kind.«
»Gute Nacht, Mutter«, sagte Giulia und betrat ihre Zelle. Sie schleppte sich zu dem kleinen Tisch, schlüpfte aus dem schmutzigen Habit, den sie nun schon so lang getragen hatte. Er roch noch immer nach den feuchten, modrigen Kerkerwänden. Die vielen Tage im Verlies und die heutigen Ereignisse machten sich erst jetzt bemerkbar. Unsagbare Müdigkeit übermannte sie. Sie schaffte es gerade noch bis zu ihrem Bett. Kaum hatte sie den Kopf niedergelegt und die Augen geschlossen, schlief sie auch schon ein.
Giulia schlief drei Tage und drei Nächte. Dann, am Morgen des vierten Tages, schreckte sie schreiend aus einem düsteren Traum auf. Nassgeschwitzt fuhr sie hoch und blickte umher. Die Sonne schien durch das kleine Fenster ihrer Zelle, auf dem Tisch stand frisches Wasser. Sie stand auf, trank in großen Zügen und kleidete sich an. Jeder Knochen und jede Faser ihres Körpers schmerzten. Es würde noch Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis ihr Leib und ihre Seele von den ausgestandenen Strapazen Erholung finden konnten.
Sie gähnte, streckte ihre Glieder und verließ die Zelle. Draußen auf dem Gang, gleich neben der Tür, fand sie Mutter Rufina schlafend auf einem Stuhl vor. Giulia lächelte beim Anblick des vertrauten Gesichts, das sie so vermisst hatte. Noch vor wenigen Tagen hätte sie nicht geglaubt, die geliebte Mutter noch einmal wiederzusehen. Nun saß diese vor ihr und schnarchte leise. Liebevoll streichelte sie Rufina über die Wange. »Mutter«, flüsterte sie. »Wacht auf.«
Rufina schlug die Augen auf. Sie blinzelte müde, doch als sie Giulia erkannte, war sie auf der Stelle hellwach. »Mein liebes Kind!«, stieß sie hervor. »Du bist aufgewacht. Dem Herrn sei gedankt.«
»Habe ich denn lang geschlafen, Mutter?«, fragte Giulia. Sie glaubte, sie hätte nur eine einzige Nacht in ihrer Zelle verbracht.
»Am Abend vor drei Tagen hast du dich zur Ruhe gelegt«, antwortete Rufina. »Wir dachten, du wachst gar nicht mehr auf.«
»Und Ihr habt die ganze Zeit vor meiner Tür gesessen, Mutter?«
»In jedem Augenblick, mein Kind«, sagte Rufina. Sie stand auf und griff sich mit schmerzverzerrter Miene in ihr Kreuz.
Giulia rieb Rufina sanft über den Rücken. »Wie geht es dem Capitano?«, wollte sie wissen.
»Die Kunst der Ärzte vermochte sein Bein zu retten«, sagte Rufina. »Doch wird es wohl bis ans Ende seiner Tage steif bleiben.«
Die Nachricht betrübte Giulia. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Geller trotz allem wohlauf war. »Ist es mir erlaubt, ihn zu besuchen, Mutter?«
»Gewiss«, sagte Rufina. »Aber das kann warten.« Sie sah betreten zu Boden. »Eine andere Seele bedarf nun deines Trostes. Monsignore Gazetti erwartet dich in den päpstlichen Gemächern, mein Kind.«
»Monsignore Gazetti?«, wiederholte Giulia. »Was ist geschehen, Mutter?«
Rufina winkte ab. »Geh«, sagte sie. »Und eil dich!« Sie schob Giulia sanft von sich.
Nur widerwillig konnte Giulia sich von Rufina trennen. Langsam zuerst, dann immer schneller lief sie durch die Gänge und Hallen, bis sie zu den Gemächern des Heiligen Vaters im oberen Stockwerk gelangte. Die Gardisten vor der Tür ließen sie sogleich ein. Gazetti stand, Dokumente studierend, neben dem Tisch des Papstes. »Monsignore«, sagte sie.
Gazetti sah müde und traurig aus. Als er aufblickte und Giulia sah, hellte sein Blick sich auf. »Schwester Giulia«, sagte er mit schleppender Stimme. »Wie geht es Euch?«
»Gut«, sagte Giulia. »Ihr habt mich rufen lassen.«
»Seine Heiligkeit«, sagte er. »Ich fürchte, es geht zu Ende. Die Ärzte können nichts mehr für ihn tun.«
Giulia erschrak. »Ihr meint, er liegt im Sterben.«
Gazetti nickte. »Vor zwei Tagen hat er nach Euch schicken lassen«, sagte er. »Er sprach davon, dass dies sein letzter Wunsch sei. Doch seit gestern Abend nimmt er seine Umgebung kaum noch wahr.«
»Ich gehe zu ihm«, sagte Giulia. »Wo ist er?«
Gazetti deutete auf die Tür hinter ihm. »Gleich dort. Bitte, folgt mir.«
Gazetti führte sie durch den angrenzenden Raum, in dem einige Sessel und gepolsterte Liegen zum Ausruhen einluden. Auf der anderen Seite des Zimmers war eine weitere Tür. Davor blieb Gazetti stehen. »Ein Medicus ist bei ihm«, sagte er.
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