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Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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Prolog
    I n ihrem Traum stand Jess auf dem Pfad, der in den Wald führte. Die knorrigen alten Eichen und die etwas höheren stattlichen Eschen hoben sich als dunkle Silhouetten vor dem Himmel ab. Hinter ihr lag das weiß getünchte, aus Stein gebaute Bauernhaus ihrer Schwester, das der Mond in der Stille der warmen Sommernacht in ein sanftes Licht tauchte. Der süße Duft des Lavendels und Rosmarins in den Töpfen vermischte sich mit dem Geruch des wilden Thymians.
    »Wo bist du?« Die Kinderstimme kam aus der Tiefe des Waldes und war in der Stille deutlich zu hören. »Spielen wir das Spiel immer noch?«
    Zur Antwort rauschten die Blätter sanft in der leichten Brise.
    »Hallo?« Jess trat einen Schritt vor. Von dort, wo sie stand, konnte sie den weiteren Verlauf des Pfads nicht ausmachen.
    Sie bekam keine Antwort.
    Jess ging weiter auf die Bäume zu. »Bist du da?« Ein Frösteln kroch über ihre Haut, sie schauderte.
    Im Haus hinter ihr war es still, in den Fenstern brannte kein Licht. Vor einigen Sekunden war sie sich noch bewusst gewesen, dass dort Menschen schliefen. Ihre Schwester, Freunde ihrer Schwester. Ihre eigenen Freunde. Jetzt wusste
sie in der unaufgeregten Logik ihres Traums, dass das Haus unbewohnt war. Die vorhanglosen Fenster glichen ausdruckslosen Augen, die Feuerstelle war kalt.
    »Wo bist du?« Jetzt war die Kinderstimme näher. Die Angst war ihr deutlich anzuhören.
    »Ich bin hier.« Sie lief noch etwas näher auf den Wald zu. »Folge meiner Stimme, komm zu mir. Ich bin hier. Auf dem Pfad!«
    Jetzt hörte sie den Wind im Tal, sein leises Murmeln nahm an Kraft zu, die Zweige der Bäume wiegten sich sacht. Das Geräusch kam näher, das Flüstern wurde zu einem Brüllen. Jess spürte die Kälte im Gesicht, dann auch in ihrem Haar. Mondschatten jagten über das weite Tal und die dunklen Berge.
    »Komm her, mein Herz. Du willst doch nicht im Unwetter draußen sein. Bei mir bist du in Sicherheit. Komm, wir verstecken uns im Haus!«
    Ihre Stimme war zu einem Schreien angestiegen, sie schleuderte die Worte gegen das Raunen der peitschenden Äste.
    Und dann, als die schwarzen Wolken das Tal herauf auf sie zurasten, sah sie das Kind im Mondlicht. Ein Mädchen mit flachsblondem Haar und einem langen Kleid, das in den dunklen Schatten farblos wirkte, ihre Füße waren bloß. Verzweifelt hielt sie die Arme vor sich ausgestreckt, die Augen in ihrem verängstigten Gesicht waren weit aufgerissen.
    »Komm, mein Herz! Ich bin hier!« Jess lief ihr entgegen, jetzt war sie nur noch wenige Meter von ihr entfernt, in einer Sekunde würde sie das Kind sicher in die Arme schließen.
    Für einen Moment verschwand der Mond hinter einer Wolke. Als er wieder erschien, war der Sturm verebbt, die Nacht war still. Das Mädchen war nicht mehr da.

    »Jess?« Die Stimme hinter ihr war die ihrer Schwester. »Jess! Komm ins Haus. Du solltest in der Dunkelheit nicht allein draußen sein.«
    Im Schlaf drehte Jess sich um und drückte das Kissen an sich. Tränen rannen ihr über die Wangen. Der Traum war bereits fort.

Kapitel 1
    D ie Vorhänge waren offen, Stimmen hallten durch ihren Kopf. Ein Kind, das sich verirrt hatte und weinte. Zwei Kinder. Drei …
     
    Eine Weile lag Jess still da und schaute verwundert auf den Sonnenstrahl, der fast unmerklich über die Wand und das Gemälde wanderte. Ihr Gemälde. Es zeigte den Wald hinter dem Haus ihrer Schwester, auf dem das Laub nach den ersten Herbstfrösten in allen Farben glühte. Da waren Magenta- und Purpurtöne, die sie nie zuvor gesehen hatte, obwohl sie das Bild doch selbst gemalt hatte. Exquisite, wunderschöne Details, schattenhafte Nuancen, die sie ohne diesen Lichtstrahl nie richtig wahrgenommen hatte. Warum nicht? Warum hatte sie es noch nicht so eingehend studiert? Warum hatte sie das Bild nicht in seiner ganzen Pracht gesehen?
    Und wo waren die Kinder?
    Als sie den Kopf drehte, um zum Fenster hinauszusehen, erfasste sie eine Woge von Übelkeit und Schwindel. Sie stöhnte auf, das Bild und der Traum waren vergessen. Aus der Ferne hörte sie das Dröhnen der Autos, die die Steigung hinauf zur Ampel an der Kreuzung mit der High Street fuhren, dort kurz zum Halten gezwungen waren und dann weiterrauschten. Als Jess es wieder wagte, die Augen zu öffnen,
war der Sonnenstrahl weitergewandert, das Bild hing wieder wie sonst im Schatten.
    Mühsam richtete sie sich auf und warf einen Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch. »Mist!« Es war Mittag. Kein Wunder, dass im Zimmer

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