Die Tochter des Schmieds
Anekdoten aus seinem Leben und über ihren Vater. Er verkürzt ihr die Zeit, raucht dabei Zigaretten
und nimmt bereitwillig Brot und Käse und Tomaten an, die Gül ihm im Laufe der Fahrt anbietet.
Gül war noch nie in einer großen Stadt, sie hat New York im Kino gesehen und auch Istanbul, doch den Lärm, das Chaos, das
Kreischen der Züge, die vielen Menschen, das hat sie sich vorgestellt wie das Gewusel am Markttag, doch die Markttage in ihrer
Heimatstadt sind ruhig, verglichen mit diesem Bahnhof in Istanbul.
Mit Yavuz’ Hilfe findet sie den Zug, in den sie einsteigen muß. Der alte Mann spricht auf dem Bahnsteig eine hagere Frau an.
Ihrer Kleidung nach zu urteilen kommt sie vom Dorf, sie mag Anfang Vierzig sein, hat ein kantiges Gesicht mit eingefallenen
Wangen, ihre Hände sind rissig, und sie trägt Pumphosen.
– Schwester, sagt Yavuz, Schwester, fährst du auch mit diesem Zug nach Deutschland?
– Ja, Onkel.
– Kannst du ein wenig auf unser junges Mädchen hier achtgeben? Sie kennt sich nicht so aus, weißt du.
Die Frau sieht Gül in die Augen und nickt dann kurz. Nicht freundlich, aber vertrauenerweckend. So, als hätte sie alles im
Griff.
|307| – Komm, Kleines, verabschiede dich. Das wird eine lange Fahrt. Ich war schon mal dort.
Emine heißt die Frau, die Gül, nachdem Yavuz seines Weges gegangen ist, am Ärmel zerrt.
– Komm, der Zug fährt gleich. Komm schon, was guckst du so? Ist da jemand, den du kennst?
Gül nickt. Zuerst hat lediglich dieser junge, breitschultrige Mann ihre Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur der Anzug, sondern
seine gesamte Erscheinung wirken fremd, er muß ein Ausländer sein. Seltsamerweise denkt Gül bei seinem Anblick an Brillantine,
obwohl seine Haare wirr vom Kopf abstehen. Er sieht aus, als wäre er der Mann, den Fuat und seine Freunde immer nachgeahmt
haben, als sie noch ihre marmorierten Kämme bei sich trugen. Als der Mann sich in Bewegung setzt, bewundert Gül seinen federnden
Gang und überlegt, ob er wohl Schauspieler ist.
Dann erst sieht sie Onkel Abdurahman, auf den sich der junge Mann zielstrebig zubewegt. Einen Moment lang ist sie sich nicht
sicher, im nächsten würde sie ihn gern rufen, Onkel Abdurahman. Doch sie traut sich nicht, ihre Stimme zu erheben.
– Komm, wir müssen einsteigen. Mädchen, wir dürfen den Zug nicht verpassen.
Emine legt ihr den Arm um die Schulter und schiebt Gül Richtung Zugtür. Gül freut sich so, Onkel Abdurahman zu sehen, am liebsten
würde sie zu ihm hinlaufen.
– Komm, Kleines, komm, du brauchst keine Angst zu haben.
Der Schaffner pfeift, und Gül verdreht den Hals, um noch einen letzten Blick auf Onkel Abdurahman zu werfen. Der junge Mann
und er geben sich die Hand und küssen sich auf die Wangen. Noch ehe Gül begreifen kann, daß es wahrscheinlich das letzte Mal
ist, daß sie Onkel Abdurahman sieht, sitzt sie mit Emine und vier anderen Frauen in einem Abteil und fährt einem anderen Leben
entgegen.
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|308| III
Ich habe keine Angst vor dem Tod, sagt sie, glaub mir, ich habe keine Angst mehr vor dem Moment, in dem der Engel des Todes
kommt, um mich zu holen. Vor ein paar Jahren noch war das anders. Da wollte ich nicht sterben, wenn ich gerade glücklich war.
Bitte, Herr, laß mich dieses Glück noch auskosten, habe ich gebetet. Doch auch das tue ich jetzt nicht mehr, ich habe mich
an den Gedanken gewöhnt, daß der Tod jeden Augenblick kommen kann. Ich habe keine Angst mehr, wirklich nicht. Meine Mission
ist fast zu Ende, ich habe zwei Kinder großgezogen, ich habe versucht, ihnen eine gute Mutter zu sein, und sie haben beide
einen Platz gefunden im Leben. Es ist niemand mehr da, der noch auf mich angewiesen ist, ich kann in Ruhe gehen.
Ich habe gelogen, aber ich habe nicht betrogen, und ich habe mich nie verkauft in diesem Leben, ich habe nie jemanden bespitzelt
oder etwas geklaut. Vielleicht auch nur deshalb, weil es die Umstände nicht erfordert haben.
Bettlägerig zu werden und dahinzusiechen, davor habe ich Angst, davor habe ich große Angst. Nenn es Stolz oder falschen Stolz,
ich möchte niemandem zur Last fallen, und ich möchte nicht, daß jemand darauf warten muß, daß ich endlich sterbe und ihn und
mich erlöse. Nur noch davor habe ich Angst, nicht aber vor dem Tod.
Manches Mal, wenn ich unglücklich bin, wache ich morgens auf und denke: Verflucht, ich bin schon wieder aufgewacht. Hätte
ich nicht ewig schlafen können?
Eines Tages
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