Die Tochter des Schmieds
zurück. Zeliha hatte das eingefädelt. Es dauerte noch länger als mit dem Zug und war auch unbequem, doch es war billiger.
Ihr Mann war nahezu wohlhabend zu nennen, aber nur weil sie es immer wieder schaffte, seine Verschwendungssucht einzudämmen,
und hier und da mit ein paar kleinen Geschäften etwas dazuverdiente. Am Abend vor der Heimfahrt hatte Necmi sie in ein Lokal
ausgeführt und hatte eine kleine Flasche Rakı getrunken, und sie hatten Kebab gegessen. Als würden Brot und Käse und Tomaten
und Zwiebeln und ein Glas Wasser nicht reichen. Nein, dieser Mann konnte nicht mit Geld umgehen, nur sie wußte, wie man es
zusammenhielt und vermehrte.
So quetschten sie sich ins Führerhaus, Zeliha hatte die Kleine auf dem Schoß und saß ganz außen, atmete den Rauch der selbstgedrehten
Zigaretten der beiden Männer ein, schluckte mit ihnen den Staub der Straße, beinahe zehn Stunden lang. In den kurzen Pausen
kochte sie Tee auf einem Gaskocher und bereitete eine Brotzeit, während Necmi und der Lastwagenfahrer Backgammon spielten.
|10| Fast drei Jahre später fuhr Necmi wieder mit dem Zug in die Hauptstadt, doch jetzt war Hülya alt genug, daß ihre Mutter nicht
mehr mitkommen mußte. Als der Schmied nach vier Tagen zurückkam, trug er seine Tochter auf dem Rücken, ihre Beine waren bis
zu den Knien eingegipst.
Sechs Wochen waren vergangen, in denen Hülya fast jeden Tag geweint hatte, weil es so juckte unter dem Gips. Necmi stand vor
dem einzigen Spiegel im Haus und rasierte sich. Timur stellte sich neben ihn, doch traute er sich kaum zu fragen, was er auf
dem Herzen hatte, aus Angst, sein Vater würde schimpfen.
– Darf ich mitkommen? bat er.
– Gut, sagte Necmi überraschend und ohne lange zu überlegen und strich seinem Jungen über die blonden Haare. Lauf und sag
deiner Mutter, sie soll etwas mehr zu essen einpacken.
Timur wartete schon mit dem Brot und dem Käse ungeduldig vor der Tür, als er die Stimmen aus der Küche hörte.
– Es ist völlig unnötig, daß er mitfährt. Er ist noch klein, was hat er in Ankara verloren?
– Ein Abenteuer, sagte Necmi. Es wird ein Abenteuer für ihn sein.
– Es ist …
– Schluß. Er fährt mit.
Timur wäre am liebsten losgelaufen, um seinen Freunden davon zu erzählen, aber er wollte den Zug nicht verpassen. Der Zug,
er war noch nie mit dem Zug gefahren.
Als ein Sesamkringelverkäufer, der ein großes Blech auf seinem Kopf trug, vorbeikam, sprach Timur ihn übermütig an.
– Bruder, sagte er, Bruder, ich fahre heute nach Ankara.
– Nach Ankara.
Der Junge, der zwei, drei Jahre älter sein mochte als Timur, lächelte.
– Halt die Augen auf, dort gibt es Sesamkringel groß wie Kutschräder. Die Menschen dort sind reich, die können sich so etwas
leisten.
Und Timur freute sich darauf, die große Stadt zu sehen, |11| diese unglaublichen Sesamkringel, und er freute sich, daß seine Schwester gesund werden würde.
Fast die ganze Fahrt über sah er aus dem Fenster, und manchmal summte er mit dem Rattern des Zuges mit. Er wollte nicht einschlafen,
er wartete auf den Moment, in dem die Stadt vor ihnen auftauchen würde. Doch das Rattern machte ihn müde, das und das endlose
trockene Braun der Ebene und der Hügel am Horizont und das Schnarchen seines Vaters. Kurz vor Ankara schlief er ein.
Timur wurde erst wieder wach, als der Zug mit laut quietschenden Bremsen in den Bahnhof einfuhr.
– Hab keine Angst, und paß auf die Autos auf, sagte der Schmied zu seinem Sohn, als sie ausstiegen.
Timur hatte keine Angst, er war fasziniert von den vielen Menschen, von den Geräuschen, von den großen Häusern und von den
Autos, die er noch nie gesehen hatte. Als er bemerkte, daß seine Schwester ganz verängstigt war, ging er noch dichter neben
seinem Vater, der Hülya auf dem Rücken trug. Timur wollte sie streicheln, doch seine Hand reichte nur bis zum Gips.
– Was siehst du denn immer den Sesamkringelverkäufern hinterher? fragte Necmi. Und dann lachte er und sagte: Hat dir etwa
jemand erzählt, in Ankara gäbe es Sesamkringel groß wie Kutschräder?
– Ja, sagt Timur.
– Die Unwissenden erfinden immer so einen Unsinn, sagte sein Vater, und Timur war stolz, daß er jetzt zu den Wissenden gehörte.
Später, beim Arzt, konnte er Hülyas Hand halten. Seine Schwester weinte nicht, doch Timur konnte sehen, daß sie vor Angst
ganz steif war.
– Mach die Augen zu, sagte Timur, und der Arzt fügte mit warmer Stimme
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