Die Tochter des Schmieds
keine Lügner und Betrüger entdecken
kann, daß keinem etwas genommen wird und daß alles seine Ordnung hat und wahrscheinlich niemand unschuldig im Gefängnis sitzt.
Murat schickt Briefe, und er schickt Geld, doch er fordert Suzan noch nicht auf, nachzukommen. Und sie ist auch nicht erpicht
darauf, das fremde Land erscheint ihr nicht verlockend, was soll sie mit großen Kaufhäusern und bunten Lichtern anfangen.
– Aber was soll ich machen? fragt sie. Wenn er sagt, komm her, werde ich wohl gehen müssen. Ich kann mich nicht daran gewöhnen,
daß er nicht da ist. Ich habe Sehnsucht, verstehst du, Gül, ich verbrenne nachts vor Sehnsucht.
– Fuat ist auch nie da, sagt Gül. Er kommt spät in der Nacht, und morgens steht er auf und geht zur Arbeit.
So sind die Männer doch alle, möchte sie sagen. Die Zeiten, in denen sie Fuat viele Dinge erzählt hat, scheinen vorbei zu
sein. Sie weiß nur aus Büchern und Filmen, daß es auch anders sein kann. Doch Gül traut sich nicht, etwas zu sagen, das wissend
klingen könnte, nicht, wenn sie mit Suzan spricht, die so viel mehr Erfahrung hat als sie.
So dünn wie Sibel ist Gül nie gewesen, doch auch ein halbes Jahr nach der Geburt ist sie noch weit von ihrem früheren Gewicht
entfernt. Ihr Appetit hat sie nicht verlassen, und wenn sie auch nicht mehr ständig das Gefühl hat, ein ganzes Blech Baklava
essen zu können, so gönnt sie sich immer noch gerne etwas zwischen den Mahlzeiten, ein Brot mit Butter, Joghurt und Zucker,
etwas eingedickten Traubensaft, ein paar |296| Haselnüsse, einen Apfel oder Sesamkringel. Ihr Bauch ist vorgewölbt, ihre Hüften sind voll, ihr Busen wogt beim Gehen.
– Maşallah, sagen ihre Mutter und Schwiegermutter, der Herr hat dich gesegnet, du bist eine propere Frau geworden.
Es wird noch fast zehn Jahre dauern, bis aus proper dick wird, und in vierzig Jahren wird sie es sich gut überlegen, ob sie
sich auf ein Sofa setzen soll, weil sie weiß, daß ihr das Hochkommen schwerfällt. Doch im Moment ist sie eine wohlgenährte
Frau, wie es die Bauchtänzerinnen in den alten Zeiten waren, bevor das Ideal der Schlankheit diese Kunst zerstörte.
Eine füllige junge Mutter, die Brüste schwer von der Milch, eine Frau, die nahezu jeden Tag an der Nähmaschine sitzt, mit
Freude das Pedal tritt, den Stoff unter der Nadel durchzieht, dem Surren der gut geölten Teile zuhört und so nebenbei etwas
Geld verdient, das sie ihrem Mann gibt, der es manchmal einfach einsteckt und manchmal in die Pappschachtel tut, die nie wieder
voll werden wird.
Als der Mann in der Familie verwaltet Fuat das Geld, investiert es in Glücksspiel oder Alkohol. Doch er sorgt dafür, daß immer
genug zu essen da ist, Kleidung und Schuhe, Seife und Rasiermesser für den Laden.
Was ihm in jungen Jahren das Glücksspiel ist, wird ihm im mittleren Alter das Lottospielen sein und im Alter, wenn er es geschafft
hat, einiges auf Seite zu legen, die Börse. Nie wird er den Traum aufgeben, ohne Arbeit von einem Tag auf den anderen reich
zu werden. Erst sehr spät wird sich Gül ein Mitspracherecht erstreiten. Jahrelang wird sie das Geld, das sie für Zigaretten
braucht, von ihrem Haushaltsgeld abzwacken und ohne Fuats Wissen rauchen. Sie wird Sonderangebote studieren und Schnäppchen
jagen, sie wird auf eine Strickjacke oder einen Wintermantel verzichten, um ihren Töchtern den einen oder anderen Wunsch zu
erfüllen. Doch da es bei weitem nicht alle Wünsche sein werden, wird sie ergrimmt sein über ihren Mann, der seinen Freunden
oder selbst Fremden gegenüber gern großzügig ist und sie viel häufiger einlädt, als |297| es die Höflichkeit und der Anstand verlangen. Seinen Töchtern aber wird er nicht mal eine zweite Barbiepuppe kaufen.
Noch sitzt Gül im Haus ihrer Schwiegereltern an der Nähmaschine, es hat sich längst herumgesprochen, daß sie gut arbeitet.
Wenn Esra viel zu tun hat, schickt sie ihre Kundinnen zu Gül. Und Gül hält gern einen Schwatz mit den Frauen, kocht ihnen
Tee und schreibt an, falls eine nicht sofort bezahlen kann.
Die Tage vergehen schnell, Gül ist ständig beschäftigt, nachts wacht Ceren häufig weinend auf, sie ist ein viel unruhigeres
Kind als Ceyda. An vielen Abenden in diesem Winter schläft Gül ein, sobald ihr Kopf das Kissen berührt, und wird wach von
einem Weinen oder einem Rütteln an ihrer Schulter.
Noch immer kommt ihr Vater fast jeden Tag vor der Arbeit, und es ist genug Zeit,
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