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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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keine andere Möglichkeit. Tritt vor, Stilt!«
    Stilt rutschte ein wenig näher. Er hatte so lange Beine, daß die Knie im Sitzen über den Kopf ragten. Er zog einen Fuß aus seinem Stiefel und kratzte sich ungeniert hinter einem Ohr.
    »Beug den Hals!«
    Der dürre junge Gestaltwandler gehorchte. Rooster drückte den Kopf mit einer Hand weiter nach unten und schob mit der anderen Hand das glatte, strähnige Haar beiseite. »Seht her - Stoppelfedern!« Er riß Stilts Kopf wieder hoch und rüttelte an der scharf ausgeprägten, fußlangen Nase, um zu zeigen, wie verkalkt sie geworden war. »Und seine Zehen werden allmählich zu Krallen - seht selbst!«
    Die Kinder schoben und drängelten, weil sie unbedingt etwas sehen wollten. Stilt blinzelte, ertrug ihre Stiche und Stöße jedoch mit dumpfer Gleichgültigkeit. Schließlich schniefte Dimity und fragte: »Also was ist los?«
    »Er pubertiert, das ist. Sieh dir seine Nase an! Die Augen! Noch vor dem nächsten Neumond wird die Veränderung eintreten. Und dann, und dann ...« Rooster legte eine dramatische Pause ein.
    »Dann?« drängte der Schattenjunge mit einer Stimme wie Papier, wie eine nächtliche Brise. Er war jetzt irgendwo hinter Thistle.
    »Dann wird er fliegen können!« sagte Rooster triumphierend. »Er wird imstande sein, über die Mauern in die Freiheit zu fliegen, und niemals zurückkehren.«
    Freiheit! dachte Jane. Sie schaukelte zurück auf die Fersen und stellte sich vor, wie Stilt unbeholfen mit den Flügeln schlug und in einen bronzegrünen Herbsthimmel davonflog. In Gedanken kreiste sie mit ihm empor, über die Mauern und den rasiermesserscharfen Draht hinweg in die Luft, und die Gebäude und Rangierbahnhöfe unten schrumpften zusammen, während sie höher stiegen als die wogenden Abgase aus den Schornsteinen, hinein in den tiefer werdenden Himmel, höher sogar als Dame Mond selbst. Um niemals, oh, niemals wiederzukehren!
    Es war natürlich unmöglich. Nur die Drachen und ihre halbmenschlichen Ingenieure verließen jemals die Fabrik auf dem Luftweg. Alle anderen, Arbeiter wie Geschäftsleitung, wurden von den Mauern und an den Toren von Sicherheitswächtern und der groben gußeisernen ZeitUhr zurückgehalten. Und dennoch spürte sie in jenem Augenblick, daß sich etwas in ihr festsetzte, so etwas wie ein unmöglicher Hunger. Sie wußte jetzt, daß die Vorstellung der Freiheit, wenn auch sonst nichts weiter, möglich war, und nachdem diese Vorstellung sich in ihr eingenistet hatte, konnte sie den Wunsch nach Freiheit unmöglich verleugnen.
    Unten, am Grunde ihres Bewußtseins, rührte sich etwas und sah sich mit dunklem Interesse um. Sie durchlebte einen kurzen benebelnden Brechreiz, einen Rückzug in irgendeine lichtlose klaustrophobische Sphäre. Dann war sie wiederum tief im Magen der Dampfdrachenfabrik, in dem kleinen Schlafsaal im zweiten Geschoß von Gebäude 5, das eingekeilt war zwischen einem Vorratslager für Muster und dem Sandschuppen. Zwischen ihr und dem Himmel lagen verstaubte hölzerne Balken und Dachpappe.
    »Also wird er davonfliegen«, sagte Dimity ungehalten. Sie schlug aufgebracht mit dem Schwanz hin und her. »Also was? Sollen wir Blugg als Abschiedsgeschenk umbringen?«
    Rooster rügte ihren Ungehorsam mit einem Schlag auf die Schulter. »Blöde Ziege! Pickelkopf! Waschlappen! Du glaubst, Blugg hätte es nicht bemerkt? Du glaubst, er hat nicht die Absicht, der Göttin ein Opfer zu bringen, damit sie diese Möglichkeit vereitelt?«
    Kein anderer sagte etwas, also fragte Jane widerstrebend: »Ein Opfer?«
    Er faßte sich mit einer Hand zwischen die Beine, formte mit der anderen Hand eine Sichel und schnitt daraufhin mit der Sichel etwas ab. Seine Hand fiel weg. Er hob eine Augenbraue. »Kapiert?«
    Sie hatte es nicht so recht verstanden, aber Jane hütete sich, das zuzugeben. Errötend sagte sie: »Oh.«
    »Also gut. Ich habe Blugg genau beobachtet. An Abstichtagen geht er mittags in sein Büro, wo er uns durch ein Fenster in seiner Tür beobachten kann, und schneidet sich die großen häßlichen Nägel. Er benutzt dieses abscheulich riesige Messer und läßt die Abschnitte in einen Aschenbecher fallen. Anschließend schlägt er sie in eine Papierserviette und wirft sie in die Hochofenfeuer, so daß sie nicht gegen ihn verwendet werden können.
    Das nächste Mal jedoch werde ich für einen Aufruhr sorgen. Dann wird Jane in sein Büro schlüpfen und einen oder zwei Schnipsel stehlen. Nicht mehr«, sagte er und sah sie fest an,

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