Die Tochter des Tuchhandlers
kalte Januarluft ein, die Hunderten kleiner Messerklingen gleich in ihre Lungen schnitt. Warum hatten sie aus Nürnberg fortziehen müssen? Die glücklichsten Jahre ihrer Kindheit hatte sie in der fränkischen Stadt verbracht, und obwohl sie als Fünfjährige nach Lucca gekommen war, erinnerte sie sich gut an ihren Onkel, die freundliche Tante und die vielen Nichten und Neffen, mit denen sie mancherlei Schabernack getrieben hatte. Hier in Lucca war sie immer eine Fremde geblieben.
Sie legte die Hände auf die verschneite Balustrade und beugte sich vor.
»Bei allen Heiligen! Seid Ihr ganz von Sinnen?« Ines, ihre Kammerzofe, kam auÃer Atem die Treppe heraufgestiegen, legte ihr einen Umhang um die Schultern und zog sie sanft an die Hausmauer zurück. »Ich suche seit einer Stunde nach Euch! Wie sollen wir Euch bis zum Empfang herrichten, wenn Ihr Euch hier oben versteckt?«
Ines wischte den Schnee von den Schultern ihrer Herrin und legte Beatrices lange, goldblonde Locken sorgsam über den Umhang. »Er ist ein guter Mann. Jedenfalls hat mir das Rosalba gesagt, und die muss es wissen, denn ihr Sohn arbeitet für Ser Buornardi. Pietro hat als Botenjunge angefangen, und jetzt ist er in der Schreibstube. Ja, der Signore hat ihn das Lesen und Schreiben lernen lassen und â¦Â«
»Ines, bitte!« Beatrice ergriff die fleiÃigen, geröteten Hände ihrer Dienerin.
»Ihr weint â¦Â«, flüsterte Ines bestürzt und wollte nach einem Tuch suchen, doch Beatrice hielt ihre Hände fest.
Ihre sonst so blassen Wangen waren von der Kälte gerötet. »Heute werde ich mein Elternhaus verlassen und zu einem Mann ziehen, den ich kaum kenne, von dem ich nur weiÃ, dass er genug Geld hat, um meine Mitgift zu bezahlen. Was werde ich für ihn sein? Eine Investition, die Sicherung seiner Nachkommenschaft â¦Â« Bei dem Gedanken an das, was sie erwartete, erstarb ihre Stimme.
»Ich ⦠es tut mir leid, ich wollte Euch doch nur Mut machen â¦Â« Umständlich zog Ines ein sauberes Tuch aus ihrer Schürze und tupfte damit die tränennassen Wangen ihrer Herrin trocken. Ines war einen halben Kopf kleiner als Beatrice, hatte eine kräftige Statur, schwarze Haare, die unter ihrer Haube hervorschauten, und sanfte, dunkle Augen, die Beatrice voller Mitleid betrachteten. »So ist das mit uns Frauen. Wir alle weinen vor der Hochzeit, aber nachher ist alles nur halb so schlimm.« Sie zwinkerte ihr zu. »Ihr habt ihn doch gesehen!
Ein stattlicher Mann. Was sind zehn Jahre? Immerhin ist er nicht alt, bucklig und zahnlos, und Ihr seid eine Schönheit! Welcher Mann könnte Euch widerstehen? Er wird Euch die Toskana zu FüÃen legen, Euch mit Seide, Perlen und Pelzen überhäufen ⦠Allein der Verlobungsring muss ihn ein Vermögen gekostet haben.« Inesâ Blick fiel bewundernd auf den groÃen Rubin an Beatrices Hand.
Angesichts des verzückten Gesichtsausdrucks ihrer Dienerin zwang sich Beatrice zu einem Lächeln. »Ich weiÃ, du meinst es gut, aber ich â¦Â« Ihr Lächeln verschwand, und sie zog den Umhang enger um ihre Schultern.
»Oh, das wird Euch ablenken!« Inesâ Gesicht hellte sich auf. »Heute früh ist in der Sakristei des Domes ein Toter gefunden worden!«
»Ein Messdiener?«
»Viel schlimmer!« Ines senkte die Stimme, anscheinend war das, was sie erzählen wollte, von anstöÃiger Natur. »Jemand hat den Gast des Bischofs ermordet, erstochen, heiÃt es, und er soll dort mit heruntergelassenen Hosen gelegen haben â¦Â« Sie räusperte sich. »Und er soll gar nicht gesund ausgesehen haben.«
»Kein Wunder, er war tot«, bemerkte Beatrice trocken.
»Nicht doch, er soll die Franzosenkrankheit gehabt haben!«, schloss Ines triumphierend.
»Wie bitte?«
»Er hatte den Ausschlag! Untenherum soll er mit wässrigen Pusteln und Knoten bedeckt gewesen sein. Was treibt so ein vornehmer Signore nachts in der Sakristei? Warum ist er nicht zu den Huren gegangen oder hat sich eine mit auf sein Zimmer genommen? Dann wäre ihm das vielleicht nicht passiert.«
»Wenn er aber nicht an Frauen interessiert war, Ines?«
»Ihr denkt von den Priestern immer das Schlimmste.«
»Ich bitte dich, Ines. Zeig mir nur einen Priester, der nach den Regeln der Kirche lebt.«
»Pater Aniani!«, kam es spontan.
»Pater Aniani ist eine Ausnahme.« Der
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