Die Todesgruft von Bally Moran
Frische, ihre Zuversichtlichkeit schien jedoch etwas von der Düsterkeit zu verdrängen. O ja, Peggy mit ihrem gesunden Menschenverstand würde sich wie ein Bollwerk zwischen sie und ... Jesse hielt plötzlich in ihren Gedanken inne: Ja, wovor sollte sich Peggy eigentlich als Bollwerk schieben? fragte sie sich. Glaubte sie etwa an Mrs. Mullins’ Schauergeschichten, daß ein Gespenst mit dem Kopf unterm Arm hier herumliefe? Oder nahm sie sich des Professors Warnung vor seltsamen Dingen zu Herzen? Sie wollte den Mund aufmachen, um Peggy zu erklären, daß mit ihr alles in Ordnung wäre und ihr nur das Schloß so zugesetzt hätte – aber wahrscheinlich würde Peggy sie dann erst recht für verrückt halten, und deshalb sagte sie so beiläufig wie möglich: »Komm, setz dich zu mir und trink noch eine Tasse Kaffee.«
Peggy war jedoch noch nicht ganz zufrieden. »Aber irgend etwas war doch los mit dir?« fragte sie, während sie sich setzte.
»Ich bin einfach übermüdet. Die Reise, die neuen Eindrücke und zum Schluß dieser deprimierend düstere Steinhaufen – das war wohl ein bißchen viel.«
»Dann legst du dich am besten gleich hin.«
»Nein. Ich fühle mich schon wieder erholt. Der Kaffee hat mir gutgetan«, beteuerte Jesse und stellte erleichtert fest, daß Peggy endlich aufgehört hatte, sie mißtrauisch zu mustern.
In Wirklichkeit hätte sie sich schrecklich gern hingelegt. Aber dazu mußte sie eine der dunklen Wendeltreppen hinaufsteigen, und Peggy würde sie vielleicht auch noch im Schlafzimmer allein lassen, aber sie hatte noch nicht die Kraft, allein zu bleiben.
»Der Professor kam noch einmal allein zurück«, erzählte Peggy. »Er wollte nur rasch sagen, daß er noch einiges über Bally Moran zu berichten hätte, aber nicht vor der alten Klatschtante. Ich verstehe eigentlich nicht, warum. Die Wahrheit kann doch nicht schlimmer sein als diese Gespenstergeschichten. Der Kopf unterm Arm!« Sie lachte spöttisch auf. »Das ist doch langsam überholt, oder?«
»Es wäre doch möglich«, antwortete Jesse vorsichtig, »daß die Atmosphäre dieses Ortes die Menschen solche Dinge sehen läßt. Spürst du es denn nicht, Peggy? Irgendwie ist es hier schrecklich unheimlich.«
Peggy mußte lachen. »Aber Jesse, da bin ich gar nicht deiner Meinung. Was soll denn hier unheimlich sein? Das ist einfach ein altes Schloß mit einer jahrhundertealten Geschichte. Wenn diese Mauern sprechen könnten, was glaubst du, was die alles erzählen würden.«
»Ich hätte gar keine Lust, ihnen zuzuhören.«
»Du hast eben kein Gefühl für die geschichtsträchtige Atmosphäre. Ich finde das einfach großartig.«
Jesse erwiderte nichts. Aber sie überlegte, ob nicht sie vielleicht viel mehr Gefühl dafür hätte. Denn wenn Peggy die Atmosphäre wirklich so aufnehmen könnte, wie sie war, würde sie das wahrscheinlich nicht mehr großartig finden.
»Ich habe mir die Halle noch nicht richtig angesehen, und oben waren wir überhaupt noch nicht«, stellte Peggy unternehmungslustig fest und schob die leere Tasse beiseite. »Wenn du nicht zu müde bist, könnten wir das jetzt nachholen.«
Jesse wäre zehnmal lieber auf ihrem Stuhl sitzengeblieben, aber sie mußte sich dem stellen, was sie da draußen ängstigte. Und in Peggys Begleitung würde es sicherlich leichter sein.
Grau und drohend schien die stille Halle auf sie zu warten. Und kaum hatte sie die Küche verlassen, als auch schon die eisige Kälte nach ihr griff.
Peggy war unermüdlich mit ihrer Besichtigung, jede noch so unbedeutende Kleinigkeit mußte sie sich ansehen. Jesse schleppte sich hinter ihr her und versuchte vergebens, gegen Kälte und Angst anzukämpfen. Die Wandbehänge, die Steinbänke und die kleine Holztruhe mußten genau untersucht werden; die lächerlich kleine Ritterrüstung, die einer zierlichen Frau gepaßt hätte, und das steinerne Betpult an der Wand neben dem Eingang – alles erweckte Peggys Interesse, bis Jesse glaubte, sie könnte es nicht mehr aushalten und müßte schreiend in die Küche rennen. Nur die Furcht, daß Peggy denken könnte, sie hätte nun vollends den Verstand verloren, hielt sie davor zurück.
»Schau mal!« Peggy nahm neugierig eine Bibel von dem Betpult und begann vorsichtig darin zu blättern. Auf vergilbten Seiten standen in verschiedenen Handschriften die Daten von Geburt, Heirat und Tod. »Die nehme ich mit hinauf!« rief sie entzückt aus. »Hier können wir eine Menge über die Geschichte von Bally Moran erfahren.
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