Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
Carlotta tastete sich ein paar Zentimeter zurück, aber sie merkte, dass sie Gefahr lief, die Böschung hinabzustürzen. Einen winzigen Schritt machte sie zur Seite, dann noch einen.
Aber Andresen folgte ihr unerbittlich. »Wer sind Sie? Wer hat Sie beauftragt, mich auszuspionieren?« Seine Stimme wurde immer leiser, Mamma Carlotta hatte Mühe, ihn zu verstehen. Sie schüttelte den Kopf, weil sie kein Wort herausbrachte, und starrte auf seine Hände. »Wer immer Sie geschickt hat – hier wird er Sie nicht finden. Niemals! An dieser Stelle wird in der nächsten Zeit nicht gearbeitet. Möglich, dass hier Hausmüll und Bauschutt entsorgt wurden. Umso besser! Ihre Leiche wird in diese Grube rollen, und ich werde dafür sorgen, dass sie nie wiederauftaucht.« Er grinste, ohne zu lächeln, hob die straff gespannte Leine an, beschrieb mit ihr einen Kreis und straffte sie wieder. »Touristinnen sind ja oft so leichtsinnig. Gehen ins Watt, ohne sich einem erfahrenen Wattführer anzuvertrauen. Und dann werden sie nie wieder gesehen …«
Mamma Carlotta begriff mit einem Schlag, dass sie nur eine einzige Chance hatte, sich gegen Wolf Andresen zu wehren. Gegen seine Kraft würde sie nicht ankommen, gegen seine Skrupellosigkeit auch nicht, aber gegen seinen Zwang, das Leben seiner eigenen Ordnung zu unterwerfen.
Andresen rechnete mit einem Fluchtversuch, doch nicht mit einem Angriff. Als Carlotta Capella ihm die Leine aus der Hand schlug, die gerade in diesem Moment den Zustand vollkommener Symmetrie erlangt hatte, war er völlig überrumpelt. Sie glitt ihm aus den Händen, verworren, regellos, die Enden fielen auseinander, jedes dorthin, wo es zufällig zu liegen kam, die Symmetrie zerfiel, die Ordnung war zerstört. Mörderische Wut verzerrte Andresens Gesicht.
Eriks schlechte Laune war wie weggeblasen. Von diesem Augenblick an gab es gar keine Laune mehr, keine gute, keine schlechte. In einem merkwürdigen Zustand der Neutralität befand er sich, als er wieder ins Auto stieg. Er wusste, dass er etwas Spektakuläres entdeckt hatte, konnte aber nicht erkennen, was es bedeutete. Nur dass es außergewöhnlich war, das wusste er. Ihm war klar, dass er dieser Entdeckung auf der Spur bleiben musste, ohne aber zu ahnen, wohin sie führen könnte. Und er ahnte nicht einmal, wo seine Ermittlungsarbeit einsetzen sollte.
Erst einmal zu Fisch-Andresen! Von dort war der Anruf gekommen, von dem Andresen selbst nichts wissen wollte. Er würde sich in seinem Laden umsehen, auch in der Küche, im Keller, im Garten … überall. Und wenn er nichts fand? Die Leere tat sich erneut auf, die Angst rollte in ihr herum wie eine winzige Kugel in einem riesigen Fass. Jede Bewegung verursachte ein Geräusch, das sich vervielfachte und lange nachhallte. Wonach sollte er suchen? Nach Carlotta Capella? Nach Anna Rocchi?
Er nahm die L 24, weil er dort schneller sein würde als auf der Westerlandstraße, um die Geschwindigkeitsbeschränkung kümmerte er sich nicht. Trotzdem empörte es ihn, als ihm ein Lieferwagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit entgegenkam, der noch dazu einen Lkw trotz Gegenverkehrs überholte. Ein verbeultes Ding war es, dem ein Kotflügel fehlte. Obwohl Erik den Aufdruck an der Seite des Wagens nicht erkennen konnte, wusste er, dass dort Käptens Kajüte stand. »Ist Tove jetzt völlig verrückt geworden?«, murmelte er wütend vor sich hin.
Ein paar Minuten später stand er vor Fisch-Andresen, aber der Laden war verschlossen. Ein Kunde wandte sich gerade kopfschüttelnd ab. »Der hat’s wohl nicht nötig, seine Ladenöffnungszeiten einzuhalten.«
Nun bekam Erik es mit der Angst zu tun.
Tove Griess in seinem zerbeulten Lieferwagen fiel ihm wieder ein. Vier, fünf Schritte, und er stand vor der Tür der Pension Störtebeker. Es dauerte nicht lange, bis ihm die Stimme, die er schon kannte, aus der Sprechanlage entgegenquäkte, aber Erik war bereits am Ende seiner Geduld angekommen. »Aufmachen! Polizei!«
Die Tür öffnete sich.
»Ist Jens Gühlich in seinem Zimmer?«
Die Frau mit der quäkenden Stimme schüttelte den Kopf. »Er ist mit seinem Schwager weggefahren. Vor ein paar Minuten.«
Erik machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Pension ohne einen Gruß. Als er zu seinem Wagen zurückging, fiel ihm ein, dass er am Fenster von Gühlichs Pensionszimmer gestanden hatte und von dort in Andresens Garten sehen konnte. Die Rasenfläche, das kleine Blockhaus, das hintere Tor …
Er holte sein Handy hervor und
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