Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
sondern trank so lange, bis es leer war. Wie weich Andresens Stimme jetzt klang! Und wie klar sein Blick war!
Sie lehnte sich erleichtert zurück. Blieb also nur noch, sich vor Erik zu rechtfertigen und zu hoffen, dass er ihr verzieh.
Sie schloss die Augen, während sie auf Andresens Stimme lauschte. »Frau Rocchi hat durch Zufall das Versteck von Björn Mende gefunden. Er ist über die Mauer geflüchtet. Wenn Sie sofort Ihre Leute losschicken, werden Sie ihn bald erwischen.« Dann entstand eine lange Pause, und schließlich hörte sie Andresen sagen: »Ja, natürlich! Das ist kein Problem. Ich werde Frau Rocchi persönlich zu Ihnen bringen.« Wieder eine Pause, dann war Andresens Stimme noch eine Spur konzilianter geworden. »In der Braderuper Heide, sagen Sie? An der Kläranlage? Ja, gut. Ich werde mit Frau Rocchi dorthin fahren.«
Als er zu Mamma Carlotta zurückkam, lächelte er sogar. »Der Hauptkommissar möchte, dass ich Sie zu ihm bringe. Er ist gerade mit den Spurenfahndern in der Braderuper Heide. Anscheinend sind dort neue Hinweise gefunden worden. Er kann dort nicht weg, möchte aber sofort mit Ihnen reden.«
Mamma Carlotta erhob sich. »Und Björn Mende?«
»Natürlich hat Herr Wolf sofort die Fahnder verständigt. Sie werden in wenigen Augenblicken das Gewerbegebiet durchkämmen. Sicherlich sind sie bereits unterwegs.«
Mamma Carlotta war beruhigt. Sie ging zu dem Garderobenständer, um ihre Jacke vom Haken zu nehmen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass auch Andresen seine Jacke überwarf und das Stück Wäscheleine in die Tasche steckte.
»Warum tun Sie das?«
»Nun, es handelt sich schließlich um die Tatwaffe. Der Hauptkommissar wird sie sehen wollen.« Er holte die Wäscheleine noch einmal heraus und betrachtete sie bekümmert. »Kann sein, dass wir die Fingerabdrücke des Täters ruiniert haben.« Er seufzte auf. »Aber ich werde die Leine trotzdem mitnehmen.«
»Und der Laden?«, fragte Mamma Carlotta, während sie durch den Verkaufsraum ging.
»Der Mörder meiner Frau ist mir wichtiger«, gab Andresen zurück und öffnete ihr die Tür. Während er sie von außen abschloss, sah Mamma Carlotta Toves Lieferwagen vor der Pension Störtebeker stehen. Warum nur besuchte er den Mann, der seine Schwester umgebracht hatte? Sie verstand ihn einfach nicht. Menschen, die keinen Familiensinn hatten, wollte sie auch nicht verstehen. Wie konnte man mit dem Mörder der eigenen Schwester freundschaftlichen Kontakt pflegen?
23
Ullas alter Mazda war noch nicht von der Spurensicherung zurückgebracht worden, auf dem Parkplatz neben dem Haus stand nur der Lieferwagen mit der Aufschrift Fisch-Andresen. Mamma Carlotta hielt darauf zu, aber Andresen dirigierte sie über die Straße auf einen Garagenhof. »Hier steht mein Wagen.«
Umständlich öffnete er das Tor der letzten Garage, feiner Schmutz wirbelte ihnen entgegen, als es nach oben schwang. Es war anscheinend lange nicht geöffnet worden.
Den alten Golf, den er aus der Garage fuhr, hatte Mamma Carlotta noch nie gesehen. Die Frage, warum er ihn statt des Lieferwagens benutzte, stellte sie sich erst, als sie schon auf der Straße fuhren, die bis nach List führte. Aber auf eine Antwort wollte sie es nicht ankommen lassen.
Als sie an der Polizeistation vorbeifuhren, reckte Mamma Carlotta den Hals, um die parkenden Autos auf dem Hof des Reviers zu sehen. Eriks Wagen konnte sie nicht ausmachen. Auch, warum es ihr auf diese Kontrolle ankam, fragte sie sich erst später. Und ebenso, warum eine unerklärliche Angst sie beschlich.
Andresen fuhr langsam und sehr ruhig. Jede Verkehrsregel beachtete er gewissenhaft, kein einziges Mal überschritt er die Geschwindigkeitsbegrenzung. Erst als Mamma Carlotta sich zum dritten Mal fragte, warum sie Angst hatte, fand sie eine Antwort: Es war Andresens Ruhe, die sie unruhig machte. Seine Nervosität war wie weggeblasen, seine flatternden Hände hielten das Lenkrad fest in der Hand, sein Gesicht war unbeweglich, die Augen blickten starr geradeaus. Keine zuckenden Mundwinkel, keine bebenden Nasenflügel, keine wippenden Brauen, keine trommelnden Finger. Der geheimnisvolle Rhythmus, von dem Wolf Andresen angetrieben wurde, die Bewegungen, in denen er sich immer wieder der Symmetrie seines Körpers vergewisserte, das Spiegeln der einen Körperhälfte in der anderen, das alles gab es nicht mehr.
Carlotta war froh, als Andresen rechts in die Braderuper Straße einbog. Nur noch wenige Minuten, dann würde sie Erik
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