Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
1
Für Carlotta Capella führte nur ein Weg nach Rom. Den Berg hinab und dann lange geradeaus.
Als die ersten Verkehrsschilder zur A 1 wiesen, fragte sie ihren Sohn zum ersten Mal, ob sie auch wirklich pünktlich am Flughafen ankommen würden. Guido versicherte es ein ums andere Mal, aber seiner Mutter entging nicht, dass auch er immer unruhiger wurde und das Lenkrad immer fester umklammerte.
Als sie bei Orvieto auf die Autobahn fuhren, begann Mamma Carlotta, ihr Blümchenkleid glatt zu streichen, das sie sich extra für diese Reise genäht hatte, und als der Verkehr vor Rom immer dichter wurde, zupfte sie an ihrer neuen Lockenfrisur herum, bis die ganze Pracht, an der ihre Schwiegertochter stundenlang gearbeitet hatte, zum Teufel war. Als der Petersdom in Sicht kam, bereute sie, dass sie den Rosenkranz in den Koffer und nicht in ihre Handtasche gesteckt hatte.
Sie griff nach Guidos Hand, der sie nur ungern vom Lenkrad löste, ließ sie aber schnell wieder los, als sie sah, dass die Augen ihres Ältesten sich mit Tränen füllten.
»Erik hat mich eingeladen«, rechtfertigte sie sich ein weiteres Mal. »Und ich muss doch einmal an Lucias Grab beten.«
Guido nickte und wechselte auf die rechte Spur, wo gerade ein schnittiger Alfa Romeo seinen klapprigen Lieferwagen überholen wollte. Das gefährliche Bremsmanöver, die quietschenden Reifen und das schrille Hupen bekam Guido nicht mit, der mit den Tränen zu kämpfen hatte.
»Lucia ist nach Deutschland gegangen, um zu sterben«, brachte er schließlich hervor.
Seine Mutter machte ihn darauf aufmerksam, dass seine Schwester nicht explizit zu diesem Zweck nach Deutschland gezogen war, sondern dass nur bedauerlicherweise ihr Leben dort geendet hatte. Und sie versuchte, Guido davon zu überzeugen, dass nicht jede Reise nach Deutschland notgedrungen mit dem Tod enden müsse.
»Ob Papa das gewollt hätte?«, fragte Guido.
Mamma Carlotta wusste, was er meinte. Nein, Dino wäre sicherlich nicht damit einverstanden gewesen, dass seine Frau allein nach Deutschland reiste. Aber Dino Capella war tot, und seine Witwe hatte kurz darauf beschlossen, dass nun die Zeit gekommen sei, eigene Entscheidungen zu treffen.
Carlotta Capella hatte mit sechzehn geheiratet, sieben Kinder bekommen und mit der Pflege ihres schwerkranken Mannes begonnen, noch ehe das jüngste Kind aus den Windeln heraus war. Sie hatte alles getan, was von ihr erwartet wurde. Tag für Tag und bald auch Nacht für Nacht hatte sie an Dinos Bett gesessen, hatte darauf verzichten müssen, Lucia in ihrer neuen Heimat zu besuchen, und war sogar, als ihre Tochter beerdigt wurde, an der Seite ihres Mannes geblieben, weil Dino keinen einzigen Tag ohne sie auskam.
Sie hatte sich in tiefschwarze Kleidung gehüllt, als er starb, und ihr Bestes getan, die Erleichterung über das Ende der ehelichen Pflichten nicht über die angemessene Trauer siegen zu lassen. Aber dann hatte sie sich ganz langsam wieder an das Glück gewöhnt. An das Glück, eine Nacht durchschlafen zu können, ohne von einem stöhnenden Kranken geweckt zu werden, an das Glück, mit ihren Enkeln zu spielen, ohne von einem stöhnenden Mann ins Haus zurückgeholt zu werden, und der Sonne beim Untergehen zuzusehen, ohne die Angst, zu lange auf das Stöhnen gewartet zu haben.
Mamma Carlotta griff nach ihrer Handtasche und kontrollierte zum hundertsten Mal, ob sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Den Lippenstift, den sie sich kurz vor ihrer Abreise gekauft hatte, steckte sie schnell wieder weg. Guido würde nicht verstehen, dass seine Mamma jedes Mal einen Moment des Glücks genoss, wenn sie ihn auftrug, Ober- und Unterlippe gegeneinanderrieb und lange, sehr lange, das erstaunliche Ergebnis im Spiegel betrachtete. Ob es im Flughafen einen Spiegel geben würde?
Als Mamma Carlotta die Abflughalle betrat, dachte sie nicht mehr an den ersten Lippenstift ihres Lebens. Lucia hatte ihr oft vom römischen Flughafen erzählt, aber so groß, so hell, so imposant hatte sie ihn sich nicht vorgestellt.
Ihr Gesicht war bleich, aber ihr Mund lächelte tapfer, als sie sich von ihrem Ältesten verabschieden musste, um sich von den Wartehallen verschlingen zu lassen. Sie warf keinen Blick zurück, um Guidos Tränen nicht sehen zu müssen, sondern folgte mit festen Schritten den Reisenden, die den Eindruck erweckten, sich auszukennen. Manchmal warf Mamma Carlotta einen Blick in eine der unzähligen Glasscheiben, an denen sie vorbeiging. War sie das wirklich? Diese
Weitere Kostenlose Bücher