Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
ins Zimmer: »Schnell! Kommen Sie, Frau Doktor!« Schon war sie wieder verschwunden, ihre Schritte rasten über den Flur, Türen schlugen, weitere Schritte und wieder das Türenschlagen.
Die Kinderärztin sprang auf. »Sie entschuldigen mich!«
Erik und Mamma Carlotta sahen ratlos auf die Tür, die nicht ganz geschlossen worden war. »Anscheinend ein Notfall«, meinte Erik achselzuckend. Zögernd erhob er sich. »Die Einzelheiten kann ich ja später noch mit der Stationsärztin besprechen. Jedenfalls werde ich jetzt Sören anrufen, damit er Saskias Bewachung organisiert.« Er zog sein Handy aus der Tasche, betrachtete es eine Weile zweifelnd, überlegte, ob das Verbot, im Krankenhaus mit einem Handy zu telefonieren, auch für einen Polizeibeamten im Dienst galt, und kam dann zu dem Schluss, dass die Maßnahme, die er zu treffen hatte, wichtiger war als alles andere.
Gerade hatte er im Adressbuch des Handys Sörens Nummer gefunden, als er hörte, dass jemand »Polizei!« rief. Und wieder: »Polizei! Hilfe!«
Schon stand Erik auf dem Flur und lief der Stimme entgegen. Sie gehörte einer jungen Krankenschwester, die in diesem Augenblick auf den Flur stolperte und hilflos wiederholte: »Polizei!« Und dann ein letztes Mal, kaum noch hörbar: »Hilfe! Polizei!«
Erik griff nach ihren Schultern und schüttelte sie. »Was ist passiert?«
»Das Kind«, schluchzte die junge Schwester. »Die Kleine hat sich fürchterlich erschrocken, als der Mann sich über sie beugte. Sie war schon blau angelaufen, als ich ins Zimmer kam. Sie hat gekeucht und kaum noch sprechen können. Sie hat nur gesagt …« Die Schwester schluchzte nun so heftig, dass sie nicht weitersprechen konnte. »Sie hat gesagt …«
»Böser Wolf?«
Die Schwester riss die Augen auf und starrte ihn an. Dann nickte sie. »Ja, böser Wolf! Der Mann ist übers Balkongeländer geflüchtet. Und Saskia … Sie hat nach Atem gerungen, aber …«
Erik schob sie weg und machte zwei Schritte auf die Tür des Krankenzimmers zu, hinter der kein Wort geredet wurde. Aber der Aufruhr dahinter war trotzdem zu hören. Es dröhnte die Reanimation, die verzweifelten Ärzte keuchten, und schließlich verklang alles in einer gewaltigen Stille.
Als Geräte klapperten, leise Stimmen zu hören waren, Rascheln, Tuscheln, ein paar schwere Schritte – da merkte Erik, dass Mamma Carlotta an seiner Seite stand. »Alles umsonst«, presste sie hervor. »Alles umsonst.«
Schon bei der nächsten Flut war Andresens Leiche angespült worden. Unterhalb des Weißen Kliffs musste er ins Watt gegangen sein. Vielleicht hatte er noch einmal die Nähe seiner Frau gesucht, als er nach Braderup gefahren war? Jedenfalls fand sich sein Wagen auf dem Parkplatz, auf dem Ulla ihr Leben gelassen hatte.
»Er hat alles getan, um sein Kind zu retten«, sagte Mamma Carlotta leise. »Christa Kern musste sterben und die Mutter seines Kindes auch, um Saskia zu retten, die nicht mehr zu retten war. Welch eine Tragödie!«
Felix und Carolin hatten sie zum Friedhof begleitet, hatten mit ihr zusammen die vertrockneten Blumen von Lucias Grab genommen, die frischen in die Vase gestellt und mit ihr zusammen überlegt, welche Blumen aufs Grab zu pflanzen waren, nachdem der Frühling nun endlich sein blaues Band auch um Sylt geschlungen hatte.
Dann schnappten sich die Kinder ihre Schultaschen und liefen zu ihren Fahrrädern, die vor der Friedhofspforte standen. Mamma Carlotta blickte ihnen lange nach, ehe sie ein paar Blumen aus der Vase zupfte.
»Du wirst das verstehen, cara mia«, murmelte Mamma Carlotta. »Du hast ja früher auch oft drei Nelken aus der Grabvase deines Großvaters genommen und sie in die von Maria Leonardo gesteckt, in der nie Blumen standen. Du erinnerst dich? Die junge Frau, die ein uneheliches Kind bekam und es ertränkte, ehe sie sich selbst umbrachte. Die Familie besuchte nie Marias Grab, auch der Kerl nicht, der für diese Tragödie verantwortlich war.«
Mamma Carlotta wanderte mit dem dünnen Sträußchen zum Ende des Friedhofs, wo sich ein frisches Grab an den Zaun drängte, das aussah, als dürfte es nicht dazugehören. Kein Blumengebinde lag auf der frischen Erde, kein Kranz, nichts war den Verstorbenen mitgegeben worden auf ihre letzte Reise.
»Niemand hat sie begleitet«, sagte Mamma Carlotta leise. »Keine Menschenseele.«
Es hatte Diskussionen in Wenningstedt gegeben, ob es überhaupt richtig sei, diese drei gemeinsam zu beerdigen. Es waren sogar Stimmen laut geworden, die
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