Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
machen«, sagte Carolin und machte zwei Schritte rückwärts.
»Naturalmente, Carolina!« Mamma Carlotta ließ den vielen Tränen der Trauer noch einige der Rührung folgen. »So fleißig, so gewissenhaft! Deshalb bist du auch so ein kluges Mädchen geworden!«
Felix schickte seiner Schwester einen undefinierbaren Blick hinterher, dann drängte er seine Großmutter in einen Sessel. »Lass uns ein wenig über Mama reden, Nonna. Erzähl mir von der Zeit, als sie so alt war wie ich.«
Mamma Carlotta schnaufte, als gälte es, den Erinnerungen neuen Atem einzuhauchen. Nur wenige Minuten später saß Lucia zwischen ihnen, sie hörten ihre Stimme, ihr Lachen, ihre Sprache, die noch italienisch klang, als sie das Deutsche längst perfekt beherrschte. Mamma Carlotta weinte, während sie erzählte, wie gern Lucia zur Schule gegangen war, Felix weinte, während er von der Verzweiflung seines Lehrers berichtete, der dem Temperament seiner Mutter nicht gewachsen gewesen war, und beide lachten sie, während sie noch weinten, über Eriks Kollegen, die den Hauptkommissar um seine leidenschaftliche Frau beneidet und ihn wegen ihrer Heißblütigkeit genauso oft bedauert hatten.
»Wir müssen bald zum Friedhof gehen«, sagte Mamma Carlotta. »Ich möchte zu Lucias Grab.«
Als sie ihre Koffer auspackte, dehnte sie die Erinnerungen auf ihren Mann aus. »Gott hab meinen Dino selig! Dein Nonno war sehr traurig, Felice, als seine Lieblingstochter einem Touristen nach Deutschland folgte.«
Auch Felix fielen nun seine Hausaufgaben ein. Vorsichtig fragte er: »Wirst du allein zurechtkommen, Nonna, wenn ich in mein Zimmer gehe? Ich kann auch in der Küche meine Englischvokabeln lernen, während du das Abendbrot machst.«
Mamma Carlotta sah auf die Uhr. »Dafür ist es doch noch viel zu früh! Nein, du kannst arbeiten, und ich werde mich ein bisschen umsehen. Ich will jetzt unbedingt alles kennenlernen, wovon Lucia mir erzählt hat. Das Meer, den Strand, die Dünen … Ist es weit bis zum Meer, Felice?«
Felix schüttelte den Kopf. »Du brauchst nur die Westerlandstraße zu überqueren und dann immer geradeaus zu laufen.«
»Und der Friedhof?«
»Der ist hinter dem Dorfteich. Auch nicht weit. Aber lass uns lieber zusammen dorthin gehen.« Felix betrachtete seine Nonna unsicher, als sie eine dicke Strickjacke hervorholte und sie über ihren Pullover zog. »Du wirst frieren, Nonna. Mama hat auch immer gefroren, wenn sie zum Strand ging. Hast du denn keine warme, winddichte Jacke mitgebracht?«
Mamma Carlotta zeigte auf das, was sie trug. »Etwas anderes habe ich nicht. In Umbrien brauche ich keine wärmere Jacke.«
»In Umbrien ist alles ein bisschen anders als hier auf Sylt«, erklärte Felix mit weiser Miene.
Und Mamma Carlotta wusste, dass er Recht hatte, noch ehe sie die Westerlandstraße überquert hatte. Sie würde sich warme Kleidung kaufen müssen. Wenn sie auch nur zwei Wochen bleiben würde, es war nicht damit zu rechnen, dass sich während dieser Zeit das Wetter grundlegend änderte. Und es gab ja keinen Ehemann mehr, der ihr unnötige Geldausgaben vorhalten konnte.
Sie schickte einen Blick zum Himmel und seufzte pflichtschuldig im Gedanken an ihren guten alten Dino. Dann versuchte sie, ihn zu vergessen. Und das gelang ihr von Schritt zu Schritt besser. Spätestens in dem Augenblick, in dem sie das Meer zwar noch nicht sah, aber es schon riechen und hören konnte, dachte sie nicht mehr an Dino. Zügig schritt sie aus und genoss die unbekannten Dimensionen. Die Breite der Straße, die Größe der Grundstücke und Häuser, ihren eindrucksvollen Abstand zueinander und schließlich die Weite des fahlen Himmels mit den zerrissenen Wolken, der nichts zu behüten hatte, unter dem der Sturm mit dem Meer umgehen durfte, wie er wollte.
Als sie auf die Dünenstraße stieß, entschloss sie sich, links abzubiegen, bis der Weg vor einem Gartenzaun endete. Sie wandte sich wieder nach rechts dem Meer zu, nachdem sie durch einen Blick nach links festgestellt hatte, dass dies die Straße war, in der italienischer Rotwein ausgeschenkt wurde. Hochkamp – diesen Straßennamen würde sie sich merken.
Mamma Carlotta wurde unruhig. Sie hörte das Meer seine Wellen an den Strand werfen, konnte es aber immer noch nicht sehen. Dann endlich stieß sie auf die Seestraße, die direkt an der Kliffkante endete, wo eine breite Holztreppe hinunter zum Strand führte. Mamma Carlotta blieb wie angewurzelt stehen, als sich ihr plötzlich eine neue Welt
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